Schattenjahre (German Edition)
den Weg beschreiben und mir einen Empfehlungsbrief an Ihren Schäfer mitgeben …“
„Natürlich“, stimmte sie zu. „Wenn Sie mich entschuldigen würden – ich werde das sofort erledigen.“
Es verblüffte Lewis, wie viel Willenskraft es ihn kostete, ihr nicht nachzuschauen. Aber Edward beobachtete sie, mit besitzergreifendem, grüblerischem Blick.
Wenige Minuten später kehrte sie mit einem kurzen, an den Schäfer adressierten Brief und einer genauen schriftlichen Anweisung, wo und wie die Herde zu finden war, zurück.
Edwards Bemerkung über die Fabriken hatte Lewis’ Neugierde noch geschürt. Aber er spürte, dass man Fragen missbilligen würde.
Ein seltsames Paar, dachte er, während er ins Dorf fuhr. Die Spannung zwischen den beiden und die Furcht in Liz Danvers Augen widersprachen dem Bild von häuslicher Harmonie und wechselseitiger Zuneigung, das Vic gezeichnet hatte.
„David wirkt schon so erwachsen“, meinte Liz munter, nachdem sich der Besucher verabschiedet hatte. Zorn, Angst und hilfloses Mitleid mit ihrem Mann krampften ihr den Magen zusammen. Ihr war nicht entgangen, wie er Lewis McLaren angesehen hatte, und sie wappnete sich gegen den unvermeidlichen Wutausbruch.
„Was ist los zwischen dir und McLaren? Lüg mich nicht an, und versuch nicht, es abzustreiten! Mir ist sofort aufgefallen, wie er dich angestarrt hat. Wo hast du ihn kennengelernt?“
„Edward, bitte …“ Sie war den Tränen nahe, wie immer entnervt von seiner unvernünftigen Eifersucht. „Ich bin ihm heute zum ersten Mal begegnet, und du hast es doch gehört – er ist der Eigentümer der Woolonga-Ranch und wollte uns nur einen Höflichkeitsbesuch abstatten.“
„Du lügst!“, herrschte er sie an. „Ich bin kein Narr, und ich merke, dass du eine Affäre mit ihm hast. Das stimmt doch, oder?“
Er steigerte sich in helle Wut hinein, die, wie Liz aus Erfahrung wusste – bald explodieren würde. Am liebsten wäre sie aus der Bibliothek geflohen, aber ihr Stolz und Mitleid mit Edward hielten sie zurück – mit dem richtigen Edward, nicht mit diesem Mann, der ihr wilde Anschuldigungen ins Gesicht schrie, dessen Gebrechen seinen Verstand immer mehr beeinträchtigte. Sollte sie die Tür öffnen und Chivers zu Hilfe rufen? Nein, dann würde sie zugeben, dass sie die Situation nicht mehr unter Kontrolle hatte, nicht mehr mit Edwards wachsender Feindseligkeit und seiner Neigung zu Gewaltaktionen fertig wurde. Sie hatte gelernt, in sicherer Entfernung abzuwarten, wenn er in eine solche Laune geriet. Das geschah immer öfter. Die geringste Kleinigkeit konnte seinen Zorn erregen. Aber soeben hatte er sie zum ersten Mal einer Affäre mit einem ganz bestimmten Mann bezichtigt.
Sie zwang sich zur Ruhe und versuchte ihm Vernunft beizubringen. „Edward, bitte, hör mir zu. Mr McLaren bedeutet mir nichts. Er ist ein Fremder.“
„Ein Fremder? Warum wohnt er dann im Dorf? Warum ist er hierhergekommen? Was steht in dem Brief, den du ihm mitgegeben hast?“
„Das weißt du doch. Ich habe dem Schäfer erklärt, wer Mr McLaren ist.“
„Du lügst!“ Sie zuckte zusammen, als er sie anschrie und sich dann zum Schreibtisch wandte, um das Schachspiel hinabzuwerfen. Sein Arm war erstaunlich stark, die Figuren flogen in alle Richtungen und landeten polternd am Boden.
Das durchdringende Geschrei lockte Chivers in die Bibliothek. Unsicher schaute er Liz an, und Edward fauchte: „Wer zum Teufel hat Sie gerufen? Verschwinden Sie, verdammt noch mal!“ Liz schaute den Dienstboten flehend an und wünschte, er würde gehorchen. Sie hasste es, wenn andere ihren Mann in diesem Zustand sahen, selbst wenn es ein so nahestehender, einfühlsamer Mensch wie Chivers war. Es wurde immer schwieriger, diese Szenen von David fernzuhalten. Er kam sehr gut mit Edward aus, und sie wollte dieses gute Verhältnis nicht gefährden. Ein Jungemusste seinen Vater respektieren und bewundern, das war nur richtig und natürlich. Und David sah in Edward seinen leiblichen Vater. Kit wäre sicher kein so guter Vater gewesen. Edward betete den Sohn beinahe an, und nun begrüßte Liz zum ersten Mal die Abwesenheit des Kindes.
„Sie werden am Telefon verlangt, Madam“, verkündete Chivers, ohne eine Miene zu verziehen. Ein Anruf … In der Spinnerei gab es Probleme mit einigen Maschinen. Darum ging es vermutlich. Liz musterte Edward besorgt. Wenn er in dieser Stimmung war, verabscheute er ihre geschäftliche Tätigkeit ganz besonders. Aber er sah sie nicht mehr an.
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