Schattenjahre (German Edition)
Stattdessen starrte er blicklos auf die Schachfiguren am Boden, als hätte er keine Ahnung, wie sie dorthin geraten waren.
Chivers begann sie aufzuheben. Der Gewittersturm ist vorbei, zumindest vorläufig, dachte sie müde. Später würde die übliche Szene folgen – Reuetränen, die inständige Bitte, von diesen Erdenqualen erlöst zu werden, die Angst, Liz zu verlieren … Dies alles erschien ihr noch unerträglicher als die ungerechtfertigsten Anklagen, die Wutanfälle.
Vielleicht hatte Ian recht. Es würde ihnen beiden guttun, wenn sie Edward für einige Zeit in ein Sanatorium brächte. Aber sollte sie ihn dazu überreden? Er würde sofort das Schlimmste annehmen, sich verraten und verlassen fühlen, und so dringend sie auch eine kleine Oase stillen Friedens brauchte, sie durfte sich diesen Wunsch nicht auf Edwards Kosten erfüllen.
Als sie in der Bibliothek den Hörer abnahm, meldete sich niemand. Später erwähnte sie es Chivers gegenüber, der nur gleichmütig erwiderte: „So? Dann muss der Mann aufgelegt haben, Madam.“ Vermutlich hatte er den Anruf nur erfunden, um ihr zu helfen.
Sie seufzte. Ihr Kopf schmerzte, und hinter ihren Augen spürte sie ein unangenehmes Brennen. Eine Stunde Gartenarbeit – das würde ihre Nerven besänftigen. Niemand würde sie da draußen stören.
Doch sie irrte sich. Jemand störte sie. Jemand, der kein Recht hatte, ihre Gedanken zu beschäftigen. Und dieser Jemand war Lewis McLaren. Sie hörte auf, Unkraut zu jäten, und zitterte plötzlich am ganzen Körper. Was war nur los mit ihr? Sie durfte nicht an Mr McLaren denken und ihn schon gar nicht mit Edward vergleichen. Und doch vermochte sie die Erinnerung an den Händedruck nicht zu verdrängen. Diese Berührung hatte heiße Wellen durch ihre Adern gejagt, wie elektrische Stromstöße. Warum?
Hör auf damit, warnte sie sich, du bildest dir was ein. Nur weil Edward dir eine Affäre mit Mr McLaren andichtet, bedeutet das noch lange nicht …
Abrupt hielt sie den Atem an. Dachte sie tatsächlich an so etwas? Brachte sie einem Mann, den sie eben erst kennengelernt hatte, wirklich so intensive Gefühle entgegen, einem verheirateten Mann?
Verheiratet … Sie hockte sich auf die Fersen, verwundert über den Schleier, der ihre Sicht behinderte, dann merkte sie, dass sie weinte.
Verheiratet … Lewis McLarens Frau schlief sicher nicht allein und trug auch nicht die Bürde, ihre eigene Sexualität in Zweifel zu ziehen oder fürchten zu müssen. Sie wusste, was es hieß, körperliche Freuden mit einem Mann zu teilen.
O Gott, was geschah mit ihr? Woran dachte sie?
Aber – wenn die McLarens eine so gute Ehe führten, warum hatte die Frau ihren Mann dann nicht nach England begleitet? Vielleicht war sie im Land, hatte es aber vorgezogen, Cottingdean nicht aufzusuchen. Wenn das stimmte … Dann wäre es besser gewesen, sie hätte sich anders besonnen, und Edward hätte keinen Grund für seine albernen Anschuldigungen, überlegte Liz, und ich … Ja, was wäre dann? Lewis McLarens Berührung hätte sie nicht dermaßen verwirrt, und sie würde sich nicht ausmalen, was für ein Liebhaber er wäre. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie musste sich von diesen Gedanken befreien, und da gab es nur einen einzigen Weg – Arbeit, noch mehr Arbeit, bis sie zu erschöpft sein würde, um sich an die Existenz eines gewissen Lewis McLaren zu erinnern, ganz zu schweigen von sinnlosen, gefährlichen Fantasien.
Drei Tage lang schaffte sie es irgendwie, aber es fiel ihr nicht leicht. Lewis McLaren, ein Fremder in einem winzigen Dorf, erregte natürlich Aufsehen und Neugier. Es sprach sich herum, er habe die Absicht, einige Zeit hierzubleiben, und wie Liz den Kommentaren der Einheimischen entnahm, fanden ihn alle sympathisch.
Er war nicht mehr ins Haus gekommen, und sie redete sich ein, darüber sei sie froh. Aber wenn sie nachts erwachte, schweißgebadet, einen dumpfen Schmerz im Körper, der von erotischenTräumen zeugte, fiel es ihr schwer, ihrem schattenhaften Fantasieliebhaber nicht die Züge Lewis McLarens zu verleihen.
Sie sagte sich, sie sei so albern wie ein Teenager, der von einem Filmstar träumte, und versuchte in der Arbeit Vergessen zu finden. Das brachte sie zwar tagsüber auf andere Gedanken, aber nachts wurde sie umso heftiger von ihren Gefühlen gepeinigt. Was stimmt nicht mit mir? fragte sie sich bedrückt. Warum bin ich besessen von diesem Mann, den ich nur ein einziges Mal gesehen habe?
Fünf Tage nach der kurzen Begegnung
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