Schattenjahre (German Edition)
mit Lewis McLaren wachte Liz auf und entsann sich, dass an diesem Morgen ein Besuch auf der Weide fällig war. Zweimal pro Monat besuchte sie den Schäfer und die Herde. Sie zog den alten Tweedrock, einen Pullover und Wanderschuhe an, dann griff sie nach ihrer warmen Tweedjacke. Das Wetteramt hatte Regen prophezeit, und es war ziemlich kühl.
Seit seinem Wutausbruch, der Lewis McLaren gegolten hatte, war Edward still und in sich gekehrt. An diese wechselhaften Stimmungen hatte sich Liz längst gewöhnt. Auf den Zorn folgte erst Reue, dann Apathie.
Als sie ihn zum Abschied küsste, hoffte sie, es würde nicht mehr lange dauern, bis Ian ihm eines der neuen Medikamente verschreiben konnte. Aber würde sich der Patient bereit erklären, es zu nehmen?
Es war nicht weit bis zur Sommerweide, und normalerweise genoss Liz die kurze Autofahrt. Auf der schmalen Landstraße herrschte kaum Verkehr, und die Kontraste zwischen den verschiedenen Getreidefeldern entzückten sie immer wieder, genauso, wie sie das Zusammenspiel von Licht und Schatten auf den Berghängen faszinierte, wenn Wolken vor der Sonne dahinglitten.
Die zeitlose Schönheit der friedlichen Landschaft führte ihr vor Augen, wie viele andere Menschen hier im Lauf der Jahrhunderte die Kraft der Natur bewundert haben mussten. Sie fühlte sich wie ein Glied einer unzerreißbaren Kette, der sie für immer angehörte. Von ihr würden Haus Cottingdean und die Ländereien auf David übergehen, von ihm auf seine Kinder. Es gab so vieles, wofür sie dankbar sein sollte. Und es war falsch, sich nach etwas zu sehnen, das sie niemals haben konnte, das ihr nicht zustand.
Das letzte Stück des Weges musste sie zu Fuß zurücklegen, doch das störte sie nicht. Sie parkte das Auto neben dem Zaungatter, band ein Tuch um ihr Haar, zog die Tweedjacke über und brach auf. Der Wind hatte die Wolken weggefegt, warm schien die Sonne herab. Hoch oben am Himmel schwebte ein Turmfalke und spähte wartend herunter. Sie blieb stehen, beobachtete, wie er wenig später in ein Maisfeld hinabschnellte, und bedauerte das kleine Tier, das er erbeutete, obwohl sie seinen anmutigen, kraftvollen, kontrollierten Flug bewunderte, während er sein Opfer davontrug.
Ehe sie ihren Weg fortsetzte, drehte sie sich um und sah, dass ihr jemand folgte – ein Mann mit dunklem, vom Wind zerzaustem Haar. Sie wusste auch aus der Distanz sofort, wer er war. Die zusammengekrampften Muskeln in ihrem Magen, ihre Seele und ihr Herz verrieten es ihr, noch bevor sie die Stimme mit dem australischen Akzent wiedererkannte, die ihren Namen rief.
Die Vernunft sagte ihr, auf ihn zu warten, sei das Schlimmste, wozu sie sich entschließen könne. Aber genau das tat sie, hilflos gefangen in den Fallstricken ihrer eigenen Gefühle, so wie vorhin das winzige Geschöpf in den Krallen des Turmfalken.
„Welch ein Zufall!“, meinte Lewis lächelnd, als er sie einholte, wenn auch das Gegenteil zutraf. Dies war sein zweiter Besuch auf der Sommerweide. Das erste Mal hatte er vom Schäfer erfahren, wann Liz heraufkommen würde.
Er hatte sich gesagt, sein Verhalten sei töricht. Seine Neugier, die ihn von den Gedanken an Elaine und Alistair ablenkte, würde ihm guttun. Aber ein Instinkt warnte ihn. Hinter seinem Interesse an Liz Danvers steckte mehr als bloße Neugier – viel, viel mehr.
An diesem Morgen wirkte sie mädchenhafter denn je. Er wusste, wie alt sie war, fünf Jahre jünger als er. Aber nun sah sie aus, als stünde ein ganzes Jahrzehnt zwischen ihnen. Er bewunderte ihre klare, makellose, helle, zarte Haut. Ganz anders als die sonnenbraunen Gesichter seiner Landsmänninnen … Elaine hatte oft über die sengende Sonne in der Wildnis geklagt, Woolonga gehasst und manchmal auch ihn. Zumindest war sie ihm mit dieserBehauptung auf die Nerven gefallen. Hätte er darauf geachtet, würde sie noch leben – und sein Sohn auch.
„Mach dir keine Vorwürfe“, hatte Ralph ihn ermahnt. „Vergrab dich nicht in Selbstmitleid und Schuldgefühlen, davon werden die beiden nicht wieder lebendig. Du musst akzeptieren, dass Elaine eine charakterschwache Frau war, deren Lebensanschauungen und geistigen Kräfte von der Geburt des Kinds beeinträchtigt wurden. Manchmal passiert so was. Dich trifft keine Schuld …“
Wie konnte er das glauben? Sie hatte ihm gestanden, sie sei gegen ihren Willen mit ihm verheiratet worden. Beiden war nichts anderes übrig geblieben, als gemeinsam vor den Altar zu treten. Ihre Väter hatten die Ehe schon
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