Schattenjahre (German Edition)
junge Vic später arbeitete – gehört Scotts Vater. Den Namen der Ranch hat Scott nie erwähnt. Und den Namen von Scotts Vater notierte Mutter erst dann in ihrem Tagebuch, nachdem der Mann hier aufgetaucht war.“
„Möglicherweise hörte sie den Namen erst an jenem Tag.“ Faye verstand nicht, warum Sage einer solchen Belanglosigkeit so viel Bedeutung beimaß.
Aber Sage, die ihre Mutter immer besser kennenlernte, hatte zwischen den Zeilen des Tagebuchs gelesen. Lewis McLaren war nicht nur ein Besucher von vielen gewesen. Er hatte tiefe Gefühle in Liz geweckt.
Plötzlich konnte Sage es nicht mehr erwarten, die Lektüre fortzusetzen. Sie musterte Faye, die sich endgültig beruhigt hatte, und riet ihr: „Was du mir gestanden hast, solltest du auch Camilla erzählen. Ich meine nicht dein Liebeserlebnis, sondern deine Kindheit. Im Augenblick fühlt sie sich so allein und ausgeschlossen, und sie hat Angst. Wenn du ihr dein Vertrauen beweist und sie wie eine Erwachsene behandelst, der man solche Dinge sagen kann, wird sie sich ihr Leben lang daran erinnern. Mach ihr klar, dass du sie ernst nimmst.“
„Natürlich nehme ich sie ernst, aber ich will sie doch beschützen …“
„Sie ist kein kleines Mädchen mehr, sondern fast eine Frau. Lass sie an deinem Leben teilnehmen, lass sie erwachsen werden. Sie befindet sich gerade in einem sehr kritischen Alter.“
„Jetzt kann ich sie noch nicht in alles einweihen – nicht, solange sie sich um Liz sorgt.“
„Da irrst du dich. Gerade jetzt solltest du dieses Gespräch mit ihr führen. Sie braucht eine Ablenkung. Die würden wir alle brauchen … Später rufe ich in der Klinik an und erkundige mich, wie es vorangeht …“
„Alaric sagte doch, er würde uns verständigen, wenn der Operationstermin feststeht.“
„Trotzdem möchte ich mich vergewissern. Übrigens, stört es dich, wenn ich heute Abend nicht zum Dinner komme? Ich würde gern dieses eine Tagebuch zu Ende lesen.“
„Natürlich, das verstehe ich. In letzter Zeit habe ich die Lektüre vor mir hergeschoben, Davids wegen. Ich fürchtete, zu viele Erinnerungen würden zurückkehren, an seinen Unfall, seinen Tod, den Zusammenbruch deines Vaters.“
„David war immer sein Liebling“, bemerkte Sage emotionslos. „Ich glaube, nach der Tragödie hatte Vater keinen Lebenswillen mehr.“
„Nein, den hatte er nicht mehr“, stimmte Faye zu. Sie beobachtete, wie Sage das Zimmer verließ, und beneidete sie ein wenig um den anmutigen Gang. Wusste die Schwägerin, wie sehr sie sich in diesen letzten Wochen verändert hatte? Sie war sanfter geworden, strahlte nicht mehr diese Kälte aus, die Faye stets eingeschüchtert hatte, wirkte fast verletzlich.
Soll ich sie fragen, ob irgendwas nicht stimmt? überlegte Faye. Sie meint, ich soll mit Camilla reden … Vielleicht wäre das richtig. Sie hatte das Mädchen so lange vor der Vergangenheit geschützt, deren dunkle Schatten gefürchtet. Der Gedanke, jetzt über alles sprechen zu müssen, drehte ihr den Magen um. Aber sie gab Sage recht. Allmählich entstand eine Kluft zwischen Mutter und Tochter. Camilla schwankte zwischen ihrem Schmollwinkel und unverhohlenerFeindseligkeit. Sie hatte ihr sogar mangelnde Liebe vorgeworfen.
Faye stand auf und zuckte leicht zusammen, weil ein Schauer durch ihren Körper lief und sie daran erinnerte, wie sie den Nachmittag verbracht hatte. Sie verspürte noch immer keine Reue, keine Gewissensbisse, nur das beglückende Gefühl, endlich vollkommen zu sein, eine richtige Frau. Und dazu kam die Erkenntnis, dass sie sich von der Vergangenheit gelöst hatte. Sie würde diese Dinge nie vergessen und auch nie mehr verdrängen, denn sie hatten die Macht verloren, ihr wehzutun.
An diesem Nachmittag war sie von einer sexuellen Lust erfasst worden, die sie nie für möglich gehalten hätte. Sie besaß die Fähigkeit, erotische Freuden zu genießen, und ein großer Teil ihres Lebens lag noch vor ihr. Niemals würde sie sich von einem Abenteuer ins andere stürzen, das reizte sie nicht. Aber sie wusste nun, wie erstrebenswert eine enge Beziehung zu einem Mann wäre.
Hastig ging sie zu Camilla, ehe der Mut sie verlassen und sie es sich wieder anders überlegen konnte.
22. KAPITEL
Sosehr es Sage auch gedrängt hatte, in die Bibliothek zurückzukehren – nun widerstrebte es ihr, nach dem Tagebuch zu greifen. Nicht weil sie sich scheute, in die Privatsphäre ihrer Mutter einzudringen – Liz hatte sie ja aufgefordert, die Aufzeichnungen zu
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