Schattenjahre (German Edition)
lesen. Aber eine seltsame Angst befiel sie. Wovor? Fürchtete sie herauszufinden, dass die Mutter sie nicht liebte und sich kein zweites Kind gewünscht hatte? Sie runzelte die Stirn und verwarf diesen unlogischen Gedanken. Liz hatte doch sogar eine künstliche Befruchtung in Kauf genommen, um wieder schwanger zu werden.
Vielleicht war der Mensch, zu dem Sage sich entwickelt hatte, eine Enttäuschung für die Eltern gewesen. Doch das konnten sie vorher nicht gewusst haben. Also musste die Geburt des zweiten Kindes beiden willkommen gewesen sein.
Sie starrte auf den Schreibtisch, auf das Tagebuch, und ihre Nerven flatterten. Schließlich berührte sie das Buch, aber ihre Finger zuckten sofort zurück.
Rastlos begann sie umherzuwandern, dann sagte sie sich, sie sei albern, nahm am Tisch Platz und schlug das Buch auf.
Lewis McLaren spürte die gespannte Atmosphäre, die sich ausbreitete, als Liz das Zimmer betrat, und er musterte sie aufmerksam. Für eine so schöne Frau wirkte sie erstaunlich unsicher, irgendwie verwundbar. Der ängstliche, fast flehende Blick, den sie ihrem Mann zuwarf, entging ihm nicht. Worum wollte sie Edward Danvers bitten?
Seine eigene Neugier überraschte Lewis. Sein Arzt hatte ihm zu dieser Reise geraten und betont, er müsse Abstand von der Tragödie gewinnen. Und so war er nach England geflogen. Vic hatte ihm eher gleichmütig vorgeschlagen, sich doch die Herde in Cottingdean anzuschauen.
Vics Stimme hatte er entnommen, dass der Junge immer noch an Heimweh litt. Wenn er diesen Ort so liebte – warum war er dann in ein weit entferntes Land gezogen?
Beth war weder von England noch von den Danvers beeindruckt gewesen. Nach ihren Äußerungen über Liz hatte Lewis erwartet, eine ältere, kühle Frau anzutreffen, nicht dieses unsichere, nervöse Mädchen. Sein Interesse an ihr führte zu der Überlegung, Ralph Forbes, sein Arzt, mochte recht haben. Der Heilungsprozess konnte nur fern von der Ranch beginnen.
Da gab es nur ein einziges Problem – Lewis wusste nicht, ob er die Heilung überhaupt wünschte. Was für einen Sinn hatte das alles? Den Verlust seiner Frau und seines Kindes würde er nie vergessen …
Er merkte, dass Edward mit ihm sprach, ihn fragte, wie lange er in Cottingdean bleiben würde. Feindseligkeit schwang in der Stimme des älteren Mannes mit, und Lewis runzelte die Stirn.
Vorhin hatte Edward ihn sehr freundlich begrüßt. Aber seit seine Frau ins Zimmer gekommen war, wirkte er völlig verändert.
Ein Invalide und eine viel jüngere schöne Frau … Oberflächlich betrachtet, lag es nahe, dass Edward Danvers eifersüchtig war und seine Ehe schützen wollte. Aber die beiden waren schon eine ganze Weile verheiratet, hatten einen Sohn, und nicht einmal Beth konnte Liz eine Vernachlässigung ihrer ehelichen Pflichten vorwerfen.
Später verstand er nicht, was ihn zu der beiläufigen Antwort bewog: „Oh, ich werde ziemlich lange hierbleiben. Ich möchte ein paar Leute besuchen, und Vic meinte, Cottingdean sei ein guter Ausgangspunkt, wenn man diese Gegend erforschen möchte. Ich habe mir im Dorfgasthaus ein Zimmer genommen, sehr sauber und komfortabel.“ Dort hatte er ursprünglich nur eine Nacht verbringen wollen, um die Danvers zu besuchen und Vics Grüße auszurichten.
Nun, Vic hatte tatsächlich erwähnt, das Dorf sei ein günstiger Stützpunkt für Ausflüge in die Umgebung, und der Wirt würde Lewis das Zimmer sicher auch für längere Zeit zur Verfügung stellen. Aber warum wollte er hierbleiben?
Vielleicht, weil sich seine Gedanken zum ersten Mal seit Elaines und Alistairs Tod auf etwas anderes als die beiden konzentrierten.
Er wusste immer noch nicht, ob ihn Liz Danvers’ Schönheit interessierte oder ihre offenkundige Angst. Nur eins wusste er – seit er begonnen hatte, sie anzusehen und zu beobachten, konnte er seinen Blick nicht mehr von ihr losreißen und nur noch an sie denken. „Ich würde gern mal die Herde sehen“, fuhr er fort, zu Edward gewandt, obwohl er wusste, dass dessen Frau für dieSchafzucht verantwortlich war.
Unruhig rutschte Edward in seinem Rollstuhl herum. „Ah, die Herde – das ist Liz’ Domäne. Allerdings bezweifle ich, ob sie ihren hochgeschätzten Fabriken genug Zeit stehlen kann, um sie auf den Wiesen umherzuführen.“
„Wir haben eine Sommerweide an einem Berghang gepachtet“, warf Liz rasch ein, „mehrere Meilen entfernt.“
„Sie brauchen sich nicht zu bemühen“, entgegnete Lewis leichthin. „Wenn Sie mir nur
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