Schattenjahre (German Edition)
männlich er wirkte, wie vital. Sein zerzaustes Haar gefiel ihr.
„Sie nahm sich das Leben – und brachte auch unser Kind um.“ Seine Stimme klang immer noch leise. Die Worte wurden sorgfältig artikuliert, als wären sie fremdartig, als hätte er sie nie zuvor ausgesprochen. Instinktiv wusste Liz, dass er dies tatsächlich nicht getan hatte. Sie war der erste Mensch, dem er sich offenbarte. Nur ihr berichtete er von der schrecklichen Tragödie, die sein Leben überschattete. „Daran gebe ich mir die Schuld.“ Lewis senkte den Kopf. „Ich hätte es voraussehen müssen …“
Sie setzte sich ins Gras und klopfte einladend neben sich auf den Boden. „Erzählen Sie mir von Ihrer Frau.“
Die alte Liz – die Liz, die sie kannte, hätte niemals eine solche Bitte geäußert, wäre nie ins Privatleben eines anderen eingedrungen, um sein Leid zu teilen. Aber die neue Liz blickte über ihre eigenen Ängste und Bedürfnisse hinaus, erbot sich instinktiv, Lewis den Trost zu spenden, den er zu brauchen schien.
Er ließ sich neben ihr nieder und begann zu sprechen, zunächst langsam und zögernd, verschwieg nichts, schaute direkt in ihre Augen. Er habe seine Frau unwissentlich vernachlässigt, erklärte er, im selbstgefälligen Glauben, sie wäre zufrieden, und sich einfach das Recht genommen zu entscheiden, was gut für sie sei.
„Als sie wieder schwanger wurde, bildete ich mir ein, sie müsste glücklich sein. Und sie machte auch diesen Eindruck. Natürlich war sie etwas ängstlich – immerhin hatte sie bereits eine Fehlgeburt erlitten. Sie sollte die bestmögliche ärztliche Betreuung erhalten, und deshalb flog ich sie drei Monate vor der Geburt nach Melbourne. Dort wohnte sie bei ihrer Tante, und ich besuchte sie, sooft es ging. In der Stadt blühte sie geradezu auf. Die Geburt war langwierig und kompliziert, aber dann schien sie Alistair zu vergöttern. Sie ließ mich kaum in seine Nähe. Als er einen Monat alt war, holte ich die beiden heim auf die Ranch. Nun wirkte Elaine wieder sehr deprimiert. Ich wollte unseren Arzt rufen, aber dagegen protestierte sie und gestand, sie habe Heimweh nach Melbourne. Ich versprach ihr, die Weihnachtstage in der Stadt zu verbringen. Und dann …“
Er schluckte. „Alistair war gerade sechs Wochen alt, und ich war draußen bei der Herde. Da trug Elaine das Baby zum Bach hinaus. Wir hatten einen kleinen Stausee angelegt, in dem wir bis zur Fertigstellung des Swimmingpools badeten. Sie muss einfach ins Wasser gegangen sein, das Baby im Arm. Als wir die beiden später auf dem Grund des Sees fanden, lagen sie dicht nebeneinander …“ Seine Stimme brach, und hilfloses Mitleid trieb Tränen in Liz’ Augen. „Sie hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen. Darin stand, sie würde mein Kind stehlen, weil ich ihres gestohlen hätte …“
Ein Schluchzen erstickte die letzten Worte, und sie schlang impulsiv beide Arme um ihn. Es geschah so selbstverständlich, als hätte sie ihn schon oft festgehalten, während er weinte. Für sie war es eine Schicksalsfügung, dass sie einander an diesem Ort getroffen hatten. Sie wäre unfähig gewesen, es zu verhindern, hätte sie sich auch noch so sehr darum bemüht.
Irgendwo in ihrem Innern war plötzlich ein fehlender Teil hinzugekommen und setzte nun die ewige, lautlose Musik in Gang, die das Universum bewegt. Liz fand die Hälfte ihres Ichs wieder, das sie verloren hatte, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie ein vollkommener Mensch.
Schon vorher hatte sie Liebe gekannt – die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern, zu der Familie, die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Und sie hatte sogar Kit zu lieben geglaubt, so unsinnig das auch gewesen war. Doch während sie Lewis umarmte, seine Trauer um den schweren Verlust teilte, seinen Worten voller Zerknirschung, Zorn und Schmerz lauschte, verstand sie endlich, worin das Wesen der wahren Liebe lag.
Aber obwohl das Schicksal sie mit diesem besonderen Mann zusammengeführt hatte, wusste sie, dass sie nicht beisammenbleiben konnten. Ihr Lebenslauf war bereits vorgezeichnet. Sie hattePflichten übernommen, ein Versprechen gegeben, das sie nicht brechen durfte. Und ihr Verantwortungsgefühl wog schwerer als die Liebe zu Lewis.
Er hob den Kopf, und sein Blick bestätigte nur, was sie schon erkannt hatte. „Wie ist das bloß passiert?“, fragte er sanft. „Wie haben wir uns gefunden? Oh, meine Liebste, wie leicht hätten wir aneinander vorbeigehen können …“
„Vielleicht wäre es besser,
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