Schattenjahre (German Edition)
Verschluss des BHs, ehe Lizzie protestieren konnte.
Noch nie hatte sie, nur mit einer Unterhose bekleidet, vor fremden Augenpaaren gestanden. Sie erschrak, weil ihr bewusst wurde, wie einfach es war, sich von Tante Vis strengen Regeln zu befreien.
„Die braucht gar keinen BH“, ertönte eine höhnische Stimme. „An der ist doch nichts dran.“
„Nein, aber wenigstens hat sie alles an den richtigen Stellen“, erwiderte ein anderes Mädchen.
„Hör nicht auf Mavis“, sprach Rosie besänftigend auf Lizzie ein. „Die ist nur neidisch, weil ihr Freund meint, ihre Brüste seien zu groß. So, und jetzt schlüpf mal in das Kleid.“
Unbehaglich zögerte Lizzie beim Anblick des dünnen, verwaschenen weißen Stoffs mit dem rotgelben Blumenmuster, das ihr viel zu auffällig erschien. Aber sie fürchtete, mit einer Weigerung Rosie zu kränken und vermutlich auch die übrigen Kolleginnen, die erwartungsvoll zuschauten. Also gehorchte sie.
Während sie die Knöpfe schloss, merkte sie, dass sie viel dünner sein musste als Rosie. Lose hing das Kleid an ihr, das die Taille des anderen Mädchens immer eng umschlossen hatte. Undder V-Ausschnitt – sonst so straff über Rosies pralle Brüste gespannt – enthüllte viel zu viel.
Lizzie griff wieder zu den Knöpfen und versuchte ihre Erleichterung zu verbergen. „Es ist nett von dir, Rosie, aber an mir kommt das Kleid einfach nicht so gut zur Geltung wie an dir“, sagte sie taktvoll. Verwundert gestand sie sich ein, dass sie es kaum erwarten konnte, wieder Lady Jevesons verhasste Sachen anzuziehen. Darin fühlte sie sich wenigstens anständig gekleidet. Voller Entsetzen hatte sie gesehen, wie deutlich sich unter dem dünnen Blumenkleid die dunklen Knospen ihrer Brüste abzeichneten.
„Nein, lass es an!“, protestierte Rosie. „Du brauchst nur einen Gürtel. Jean, du hast doch einen roten? Hol ihn mal, wir wollen sehen, wie er zu dem Kleid passt.“
Jean Adams, ein großes, mageres Mädchen mit dunklem Haar und ausdruckslosen braunen Augen, brachte den glänzenden roten Plastikgürtel, das Geschenk eines verliebten Gl.
Angewidert wichen Lizzies Finger vor der Berührung des schäbigen Materials zurück. Sie kannte nur weiche, oft getragene, braune oder schwarze Ledergürtel.
„Gib her, Jean“, befahl Rosie, die ihre Rolle als Modeberaterin sichtlich genoss. „Lizzie, wenn ich den Gürtel um deine Taille lege, musst du den Bauch einziehen … Mein Gott, bist du dünn! Nicht mal Jean kann das Ding beim letzten Loch zumachen. So, und jetzt schau dich an.“ Energisch zog sie Lizzie vor den fleckigen Spiegel des Schlafsaals. „Jetzt fehlt nur mehr ein bisschen Farbe im Gesicht, ein hellroter Lippenstift, ein Hauch von Rouge …“
„Und schwarze Wimpern“, schlug jemand vor. „Was für eine Schuhgröße hat sie?“
„Sechsunddreißig“, erklärte Lizzie mit schwacher Stimme.
„Nun, dann müssen Marys weiße Pumps herhalten. Du hast siebenunddreißig, nicht wahr, Mary? Wir stopfen sie an den Zehen aus. Wo triffst du deinen Freund, Schätzchen? Hier draußen?“
Lizzie schüttelte den Kopf. „Auf der Nebenstraße hinter dem Krankenhaus.“
„Nein, so weit darf sie nicht in meinen weißen Pumps gehen!“, rief Mary indigniert.
„Sie kann ja erst mal ihre eigenen tragen und dann mit deinen vertauschen, bevor der Junge auftaucht. Die anderen versteckt sie im Gebüsch und holt sie morgen.“
Lizzie wollte sagen, es sei unnötig, dass Mary ein solches Opfer bringe. Ihre Tante hatte stets betont, echte Damen würden sich nie in weißen Schuhen zeigen. Aber es war schwierig zu sprechen, während Rosie ihr die Lippen bemalte – mit etwas, das sich wie klebrige Paste anfühlte. Ein anderes Mädchen spuckte auf harte Schuhwichse, um Lizzies Wimpern zu färben.
Nach einer halben Stunde waren alle zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen und forderten Lizzie auf, in den Spiegel zu schauen. Verwirrt und ungläubig starrte sie in ein völlig fremdes Gesicht. Sie sah älter aus, erwachsener – und gewöhnlich, spottete eine innere Stimme. Aber von so vielen erwartungsvollen Mienen umgeben, konnte sie nur schlucken und sich mit einem gezwungenen Lächeln bedanken.
„Und denk dran!“, mahnte Rosie mütterlich. „Wenn er’s versucht, halt ihn hin. Mach ihm klar, dass er dich respektvoll behandeln muss. Diese Jungs sind alle gleich. Jeder will nur das eine. Und um das zu kriegen, lügen sie das Blaue vom Himmel runter …“
Empört wollte Lizzie
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