Schattenjahre (German Edition)
versichern, Kit sei nicht so. Aber ihre Gefühle waren noch zu neu, zu kostbar, um irgendwem anvertraut zu werden.
Eine Kollegin – sie glaubte, es war Mary – gab ihr eine weiße Strickjacke, die sie glücklicherweise bis zum Hals zuknöpfen konnte. Dann wurde sie die Treppe hinab und bis vors Haus begleitet, sodass sie es nicht fertigbrachte, die großzügig zur Verfügung gestellten Leihgaben in letzter Sekunde doch noch abzulehnen und ihre eigenen, weniger aufreizenden Sachen anzuziehen.
In ihrem geborgten Staat wagte sie es nicht, mit dem Rad zum Treffpunkt zu fahren. Anfangs störte es sie, ihre vom BH befreiten Brüste zu spüren, die bei jedem Schritt wippten. Doch dann gewann sie die schockierende Erkenntnis, dass dieses Gefühl keineswegs unangenehm war. Wenn Kit sie umarmte, würde ihn nur dieser dünne geblümte Baumwollstoff von ihrer nackten Haut trennen …
Solche Gedanken waren verboten und widerwärtig. Das würde Tante Vi behaupten. Aber Lizzie empfand keinen Widerwillen, sondern prickelnde Erregung, so wie in jenem Moment, wo Kits Lippen ihre gestreift hatten. Eine seltsame Anspannung tief in ihrem Innern veranlasste sie,stehen zu bleiben, instinktiv eine Hand auf ihren Bauch zu pressen, unterhalb des Nabels, bis ihr bewusst wurde, was sie tat. Heftige Schuldgefühle trieben ihr das Blut in die Wangen.
Natürlich wusste sie, was zwischen Männern und Frauen geschah. Es wäre ja auch unmöglich gewesen, die Gespräche der anderen Mädchen zu überhören, die so freimütig von den großartigen oder mangelhaften Leistungen ihrer Liebhaber erzählten. Aber Lizzie hätte nie geglaubt, solche körperlichen Intimitäten, die ihr nur ekelhaft erschienen, könnten mit so köstlichen Emotionen zusammenhängen, wie sie jetzt in ihr erwachten. Die süße Qual drängte sie nun, ihre Schritte zu beschleunigen, dem ersehnten Wiedersehen mit Kit entgegenzueilen.
Sie war vorzeitig aufgebrochen, und als sie den Treffpunkt erreichte, konnte sie in aller Ruhe ihre praktischen Halbschuhe ausziehen und durch Marys weiße Pumps ersetzen, die zu groß und ziemlich unvorteilhaft an ihren schmalen Füßen wirkten.
Nur eins hatte man ihr nicht geliehen, ein Paar von diesen heiß begehrten Nylonstrümpfen. Nur mühsam hatte sie die Mädchen daran gehindert, ihr schwarze Linien auf die nackten Waden zu malen, die Strumpfnähte vortäuschen sollten. Ihre Knöchel sahen bleich und zerbrechlich aus, die Wollstrümpfe hätten nun wirklich nicht zu Rosies Kleid gepasst.
Die Minuten verstrichen, und es kam ihr so vor, als wartete sie schon stundenlang. Ihr Magen verkrampfte sich. Würde Kit nicht kommen? Sie besaß keine Uhr und wusste nicht, wie spät es war. Selbstverständlich konnte sie nicht bis in alle Ewigkeit hier herumstehen. Zum Glück wurde diese Nebenstraße nur selten benutzt, also gab es wenigstens keinen Zeugen der Schmach, die Lizzie erleiden musste.
Was würden die Mädchen sagen, wenn sie zurückkam und berichtete, Kit sei nicht aufgetaucht? Tränen brannten in Lizzies Augen. Mit einer solchen Niederlage hatte sie nicht gerechnet. Sie war so sicher gewesen, dass Kit ihre Gefühle erwiderte …
Gerade wollte sie ihre eigenen Schuhe wieder anziehen, als sie das Geräusch eines Autos hörte. Ihr Herz begann wie rasend zu pochen, und sie erstarrte mitten in der Bewegung.
Die vertraute Motorhaube des Cabrios bog um die Ecke, und Lizzie weinte beinahe vor Erleichterung. Sie ahnte nicht, wie leicht er ihre Reaktion durchschauen konnte. Der Wagen stoppte neben ihr, Kit lächelte sie strahlend an.
Jetzt würde der alte Edward sie nicht mehr für ein Unschuldslamm halten, dachte er zynisch. Welch eine Verwandlung … Er betrachtete den dunkelroten Mund, vertraute Gefühle regten sich in ihm. Für Kit war Sex eine Droge – je mehr er davon bekam, desto mehr wollte er. Und da er seit fünf Jahren am Boden festsaß, weil er einen Befehl missachtet und während eines heftigen Luftkampfs über dem Kanal die Formation verlassen hatte, um ein feindliches Flugzeug zu verfolgen, fand er im Sex das einzige Ventil für die zwanghafte Energie, die ihn ständig antrieb.
„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, entschuldigte er sich, sprang aus dem Auto und ging zu Lizzie. Erleichterung und unvergossene Tränen glänzten in ihren Augen. „Du siehst wundervoll aus“, log er, und sie überlegte, ob sie den Mädchen vielleicht doch recht geben musste und sich täuschte, was ihre eigene äußere Erscheinung betraf.
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