Schattenjahre (German Edition)
eingießen. Ich hab das nie hingekriegt, ohne zu kleckern.“
„Gran sagte mir, früher hätten die Frauen ihre künftigen Schwiegertöchter getestet, indem sie ihnen auftrugen, den Tee einzuschenken“, bemerkte Camilla, und Sage lachte.
„Also deshalb bin ich immer noch ledig. Ich hab mich schon gewundert.“
Die anderen stimmten in das Gelächter ein, und die Atmosphäre lockerte sich ein wenig. Sage überließ es ihrer Schwägerin, Camilla mitzuteilen, sie alle würden gemeinsam die Klinik besuchen. Jenny kam mit einem Karton ins Zimmer, der mehrere in Zeitungspapier gewickelte Gegenstände enthielt – offenbar das Sèvres-Geschirr. „Ich hab auch ihren Lieblingstee dazugepackt, Russian Caravan, und diese Biskuits, die sie so gern isst.“
„Ist das für Gran?“, fragte Camilla neugierig.
Jenny nickte. „Deine Tante meinte, Liz würde sich freuen, wenn sie im Krankenhaus ihr Lieblingsgeschirr benutzen könnte, und bat mich, es einzupacken.“
„O ja, Gran liebt das Sèvres-Porzellan. Sie sagte immer – sie sagt …“ Camilla unterbrach sich und warf einen angstvollen Blick auf ihre Mutter. „Sie sagt, aus diesen Tassen würde der Tee besonders gut schmecken.“
„Nun, es wird eine ganze Weile dauern, bis sie es wirklich verwenden kann“, warnte Sage ihre Nichte, ohne die Worte hinzuzufügen, an die sie alle dachten. Wenn überhaupt jemals …
„Sage möchte, dass wir bald aufbrechen“, informierte Faye ihre Tochter. „Heute Abend vertritt sie deine Großmutter bei der Versammlung des Komitees, und vorher muss sie Liz’ Unterlagen studieren. Also zieh dich sofort um, nachdem du gefrühstückt hast.“
„Ich glaube, ab morgen kannst du wieder zur Schule gehen“, sagte Sage in ruhigem, aber entschiedenem Ton.
Nach ihrer Meinung befragt, hatte Camilla es abgelehnt, ein Internat zu besuchen. Stattdessen ging sie in eine sehr gute Tagesschule in der Nähe von Cottingdean. Jetzt war sie in der letzten Klasse, mit guten Aussichten, in Oxford aufgenommen zu werden, wenn sie hart arbeitete. Das entsprach den Wünschen der Großmutter, wie Sage annahm. „Ich weiß, du sorgst dich um deine Gran“, fuhr sie rasch fort, ehe ihre Nichte protestieren konnte. „Aber sei doch ehrlich mit dir selbst – sie würde es missbilligen, wenn du die Schule schwänzt. Sie ist doch so stolz auf dich. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, betont sie, wie sehr sie sich auf dein Studium in Oxford freut. Wenn du deine Schulpflichten vernachlässigen würdest, wäre sie sicher sehr traurig. Und keine Bange. Du kannst sie oft besuchen, auch wenn ich dich selber nach London fahren müsste.“
„Wenn sie bloß in unserer Nähe wäre! Warum bringt man sie nicht nach Bristol oder Bath?“
„Im jetzigen Stadium wäre das unmöglich.“ Tröstend setzte Sage hinzu: „Sie ist in den besten Händen. St. Giles gehört zu den modernsten Kliniken in diesem Land. Vielleicht später, wenn sie sich einigermaßen erholt hat …“
Sie überlegte, ob sie ihre Nichte auf den Anblick vorbereiten sollte, der sie in der Intensivstation erwartete, auf das bleiche Gesicht, den schwachen Körper zwischen all den Geräten und Schläuchen. Doch sie beschloss, diese Dinge nicht zu erwähnen. Camilla gehörte einer Generation an, für die komplizierte Apparate selbstverständlich waren. Der Aufenthalt in der Intensivstation würde sie nicht so schockieren wie ihre Tante und ihr sogar die Gewissheit geben, dass die fortschrittlichste Technologie angewandt wurde, um ein Leben zu retten, das am seidenen Faden hing.
Während der Fahrt durch den dichten Londoner Verkehr fragte Camilla unvermittelt: „Wie kommst du mit den Tagebüchern voran? Das wollte ich dich schon gestern Abend fragen, aber dann ging ich ins Bett, bevor du fertig warst.“
„Ich habe noch nicht einmal das erste Buch zu Ende gelesen“, log Sage, die eine Ausrede brauchte, weil sie das Tagebuch nicht wie vereinbart an ihre Schwägerin weitergegeben hatte.
„Was steht denn drin? Irgendwas Interessantes?“
Sage wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad etwas fester, während sie nach Worten suchte. Ohne es zu wissen, kam Faye ihr zu Hilfe, indem sie ihrer Tochter erklärte: „Liz möchte, dass wir die Tagebücher getrennt lesen und uns eine individuelle Meinung bilden.“
„Ja, das stimmt“, bestätigte Sage.
„Wirst du heute Abend mit dem ersten Buch fertig?“, drängte Camilla. Offenbar spürte sie Sages Widerstreben, über dieses
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