Schattenjahre (German Edition)
müsste ich alles gelesen haben.“
Sie hörte die Frau am anderen Ende der Leitung erleichtert aufatmen. „Wir belästigen Sie wirklich nur ungern – unter diesen Umständen. Aber Ihre Mutter betonte, wir müssten unseren Standpunkt von Anfang an klarmachen und mit ganzer Kraft für unsere Sache kämpfen. Das Ministerium schickt einen Beamten her, um seinen Standpunkt klarzumachen, und der Aufsichtsratsvorsitzende der Firma, die diese Straßen bauen soll, wird auch da sein. Falls es Ihnen keine allzu großen Unannehmlichkeiten bereitet, wären wir sehr glücklich, wenn Sie für Ihre Mutter einspringen würden.“
Ironisch überlegte Sage, ob ihr die Anruferin, nachdem sie sich begegnet waren, immer noch die Fähigkeit zutrauen würde, Liz Danvers zu ersetzen. „Okay“, antwortete sie automatisch. Sie notierte sich, wann die Versammlung beginnen würde, und versprach, eine Viertelstunde vorher hinzukommen, damit sie die anderen Mitglieder des Komitees kennenlernen konnte.
„War das die Klinik?“ Angstvoll eilte ihre Schwägerin die Treppe herab. Sie sah schwächer und zerbrechlicher aus denn je.
„Nein, eine Mrs Henderson von der Bürgerinitiative, die den Bau der neuen Straße verhindern will. Sie rief wegen der Versammlung heute Abend an. Gut, dass wir gestern davon sprachen, sonst hätte ich keine Ahnung gehabt, worum es sich handelt. Ich gehe fünfzehn Minuten vor dem Beginn der Sitzung hin. Den Nachmittag werde ich damit verbringen, Mutters schriftliche Unterlagen durchzusehen. Also musst du den Telefondienst übernehmen und dich um etwaige Besucher kümmern. Als Jenny mir den Tee servierte, erzählte sie, gestern sei das halbe Dorf dagewesen, um sich nach Mutters Befinden zu erkundigen. Wenn dir das alles zu viel wird – wenn du für ein paar Tage verreisen möchtest …“
Faye wurde blass, als hätte Sage sie irgendwie bedroht, statt ihr einen Fluchtweg aus der zweifellos belastenden Situation anzubieten. Die ständigen Fragen nach dem Zustand ihrer Schwiegermutter, die wiederholte Erinnerung an deren geringe Überlebenschancen mussten die zarte Frau unter starken Druck setzen. „O nein – ich bleibe lieber hier, aber wenn ich dich störe …“
„Mach dich nicht lächerlich!“, erwiderte Sage und schnitt eine Grimasse. „Haus Cottingdean ist eher dein Heim als meines. Ich müsste fragen, ob ich hierbleiben darf. Bis zu Mutters Genesung würde ich gern bei euch wohnen. Bevor du dich entscheidest, will ich dich warnen. Meine Kunden werden ziemlich oft hier anrufen, und ich müsste mir ein Arbeitszimmer einrichten. Für ein paar Tage kann ich mir natürlich freinehmen, aber …“
„Aber falls Liz sich tatsächlich erholen sollte, wird es lange dauern“, vollendete Faye tonlos den Satz, und Sage nickte.
„Darüber habe ich heute Morgen nachgedacht. Als wir erfuhren, dass sie wenigstens noch lebt, waren wir so erleichtert, dass wir nicht bedachten, welch ein langwieriger Heilungsprozess ihr bevorsteht.“
„Im Grunde meines Herzens war ich nie bereit, die Möglichkeit zu akzeptieren, Liz könnte nicht mehr gesund werden. So lange hat sie mir Halt gegeben …“ Faye seufzte. „Ich wünschte, ich wäre so wie du – unabhängig und tüchtig … Seit Liz’ Unfall ist mir erst so richtig bewusst, wie sehr ich mich immer auf sie verlassen habe.“
Also deshalb ist sie so verzweifelt, dachte Sage. Nun, eins wollte sie sofort klarstellen. „Ich kann dir nicht versprechen, dass Mutter jemals genesen wird. Aber falls das Schlimmste passiert, brauchst du dich nicht um die praktischen Dinge des Lebens zu sorgen. Cottingdean wird immer dein Heim bleiben. Wie ich meine Mutter kenne, war sie so vernünftig, das zu tun, was die meisten Menschen versäumen. Sicher hat sie ein Testament gemacht und Camilla das Haus samt allem Drum und Dran vererbt …“ Sie sah, wie Faye den Mund öffnete, um zu protestieren, und hob abwehrend die Hand. „Nein, glaub bitte nicht, das würde mich stören. Ich bin hier der Eindringling, ich gehöre nicht hierher. Falls du also möchtest, dass ich nach London zurückkehre und dich hier schalten und walten lasse, dann sag es.“
„Das wäre das Letzte, was ich wollte“, entgegnete Faye wahrheitsgemäß. „Ich würde es gar nicht schaffen. Und wenn du behauptest, dies sei nicht dein Heim …“ Ärger rötete ihre Wangen. „Das ist purer Unsinn, und du weißt es auch.“
„So?“, fragte Sage trocken. „Man kann noch nicht absehen, wie lange du mich ertragen
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