Schattenjahre (German Edition)
schien sie erst nach einigen Sekunden wiederzuerkennen. „Miss Danvers, sicher hat Ihnen die Schwester erklärt, dass wir Ihre Mutter mit Sedativa ruhigstellen mussten, um die Folgen des Schocks zu mildern. Solange in dieser Hinsicht keine Besserung eintritt, können wir nichts tun.“
„Was für Verletzungen hat sie eigentlich erlitten?“, erkundigte sich Sage.
Er zögerte, musterte sie nachdenklich, dann erläuterte er ohne Umschweife: „Wir glauben, dass ihr Gehirn sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wurde – in welchem Ausmaß, lässt sich noch nicht feststellen. Falls Sie den Ernst der Lage nicht verstehen, sollte ich vielleicht erklären …“ Schonungslos betonte er, wie gering die Chancen auf eine völlige Genesung seien.
Sage sog krampfhaft ihre bebenden Lippen zwischen die Zähne. Hinter sich hörte sie Faye leise aufschreien. Sofort drehte sie sich um und wollte nach ihr greifen. Aber der Arzt war schneller und stützte ihre Schwägerin am Arm.
Er entsprach nicht dem Männertyp, der erotische Anziehungskraft auf Sage ausübte. Sicher, erwar groß und wahrscheinlich recht gut gebaut, wenn man von den müde herabhängenden Schultern absah. Der blassen Haut merkte man den Mangel an frischer Luft an. Auch die blutunterlaufenen Augen und die unordentlichen, schlecht geschnittenen dunkelroten Haare trugen nicht gerade zu einem erfreulichen Erscheinungsbild bei. Aber er strahlte männliche Kraft und Verlässlichkeit aus. Und deshalb blinzelte sie verblüfft, als Faye vor ihm zurückzuckte, kreidebleich vor Angst, das Gesicht vor Entsetzen verzerrt.
Wie Sage wusste, machte ihre Schwägerin um alle Männer einen weiten Bogen. Aber so hatte sie Faye noch nie reagieren sehen. Sie war zu bestürzt, um zu sprechen oder auf andere Art zu intervenieren. Zunächst schaute der Arzt genauso schockiert drein, wie sie sich fühlte, dann wirkte er eher neugierig und besorgt, während er hastig zurücktrat. „Alles in Ordnung“, versicherte er mit ruhiger Stimme. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“ Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und ging davon.
Im drückenden Schweigen, das nun folgte, rang Faye nach Fassung und hörbar nach Atem. Sage wagte nicht, sie zu berühren oder anzureden. Die Augen ihrer Schwägerin funkelten, fast wie die Augen eines gezähmten wilden Tieres, dessen Urinstinkte hervorbrechen, von Todesängsten geweckt. Beinahe gewann Sage den Eindruck, sie könnte gebissen werden, wenn sie eine Hand nach Faye ausstreckte.
Die sonst so blassen Wangen glühten, ein heftiges Beben erfasste Fayes ganzen Körper. Langsam richtete sie ihren Blick auf Sage, der Glanz in den Augen erlosch, als der Zorn tiefer Verzweiflung wich.
Die zitternden Beine trugen sie kaum noch. Vorsichtig nahm Sage sie beim Arm und führte sie zu einer Bank. Nachdem sie sich gesetzt hatten, brannte ihr eine Frage auf der Zunge, blieb aber unausgesprochen, denn sie spürte, dass sie keine Antwort bekommen würde.
„Es tut mir so leid – furchtbar leid“, wisperte Faye. „Sicher lag es nur am Schock …“
An der Information über Liz’ schlechte Überlebenschancen oder an der Berührung des Arztes? „Er hätte uns das etwas behutsamer beibringen sollen“, seufzte Sage. „Nur gut, dass Camilla nicht mehr da war.“
Der kummervolle und zugleich dankbare Blick, den Faye ihr zuwarf, erinnerte Sage schmerzlich an ihre eigene Schwäche. Ihre Mutter wäre in dieser Situation nicht so schnell über den Zwischenfall hinweggegangen und hätte darauf bestanden, die Ursache von Fayes seltsamem Verhalten zu erfahren, und erkannt, dass es die Schwiegertochter zwar quälen, aber letzten Endes erleichtern würde, darüber zu sprechen.
Nun, ich bin nicht wie meine Mutter, dachte Sage. Niemals ermutigte sie irgendwen, sich ihr anzuvertrauen und Halt bei ihr zu finden. In ihrer Eigensucht wollte sie nicht mit den Problemen anderer Leute belastet werden. Und so war sie fast froh, weil Faye die Gründe ihrer Reaktion verschwieg.
„Ich werde mein Büro erst morgen anrufen“, verkündete Sage. „Dieser Besuch bei Mutter war ein Trauma für uns alle. Wir können ihr nicht helfen, indem wir hierbleiben – so schuldig wir uns auch fühlen mögen, wenn wir sie verlassen. Die Schwester hat versprochen, uns anzurufen, sobald eine Veränderung in Mutters Zustand eintritt …“
„Du meinst, wenn sie stirbt“, unterbrach Faye sie bitter. „Ist es dir nicht aufgefallen? Sogar hier in diesem Krankenhaus, wo alle
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