Schattenjahre (German Edition)
an den Tod gewöhnt sind, haben sie es vermieden, das Wort ‚Sterben‘ auszusprechen. Man sagte uns nur, es stehe nicht gut um Liz. Aber sterben? Niemals!“
Hilflos trommelte Faye mit einer Faust auf die Armstütze der Bank, und Sage wünschte, sie könnte ihre Emotionen auch so leicht zum Ausdruck bringen. Auch sie hatte Angst, aber in anderer Form als die Schwägerin. Ich fürchte mich nur davor, die Bürden übernehmen zu müssen, die Mutter auf den Schultern getragen hat, dachte sie voller Selbstverachtung, Schuhe anzuziehen, die nicht für mich gemacht wurden, die mich verkrüppeln und behindern würden …
Und trotzdem geschah es bereits – Faye wandte sich Halt suchend zu ihr. Wann wird sie sich ganz und gar auf mich stützen – so wie früher auf David und Mutter, überlegte Sage. Entsetzt über diese egoistischen Gedanken, sprang sie hoch, umfasste Fayes Arm und zog sie sanft auf die Beine. „Camilla wartet.“
Sie hatte Faye immer gemocht, allerdings mit jener Art von Zuneigung, die man einem netten Haustier entgegenbringt. Nun merkte sie erschüttert, dass sie die Schwägerin beinahe hasste, so als hätte diese ihr eine Falle gestellt.
Faye war kein Klettentyp im eigentlichen Sinn des Wortes. Im Gegenteil, sie tat ihr Bestes, um sich nicht an andere Leute zu klammern. Und doch spürte man stets ihre verzweifelte Sehnsucht nach der Kraft, der Gesellschaft und Fürsorge aller Menschen in ihrer Umgebung. Warum sie nicht wieder geheiratet hatte, blieb Sage ein Rätsel. Wo sie doch so offensichtlich die Stärke und Liebe eines Ehemanns brauchte, eines zweiten David. Aber Männer wie David waren schwer zu finden, auch wenn man danach suchte, und das tat Faye nicht. Sie zog es vor, sich gegen den Rest der Welt abzuschirmen.
So durfte es nicht weitergehen. Das erkannte Faye, als sie mit Sage dem Korridor folgte. So hart hatte sie gekämpft, um ihr Ziel zu erreichen, und vorhin beinahe alles zerstört. Seit sie erwachsen war, bemühte sie sich darum. Und eine ausgestreckte Männerhand hatte sie fast veranlasst, alle bisherigen Errungenschaften wegzuwerfen.
Warum war sie so dumm und unvorsichtig gewesen? Warum hatte sie so übertrieben reagiert? Natürlich hing es mit der Angst um Liz zusammen, aber das war keine Entschuldigung.
Nur gut, dass Camilla das nicht miterlebt hatte … Krampfhaft schluckte Faye und warf einen Seitenblick auf Sage.
Ihre Schwägerin war viel zu scharfsinnig, um nicht zu bemerken, dass mehr hinter dem Zwischenfall stecken musste als die schrecklichen Eröffnungen des Arztes. Zum Glück stellte sie keine Fragen, so wie es andere vermutlich getan hätten. Nach all den Jahren müsste ich mich wirklich besser unter Kontrolle haben, dachte Faye. Wie konnte ich einen offensichtlich ungefährlichen, wohlmeinenden Mann so behandeln? Werde ich es schaffen, ihm jemals wieder gegenüberzutreten?
Sie hatte sein Erschrecken, seine Besorgnis und Neugier bemerkt. Kein Wunder … Inständig wünschte sie, er wäre nicht Liz’ Arzt. Dann müsste sie ihn nie wiedersehen. Durfte sie sich weigern, ihre Schwiegermutter im Krankenhaus zu besuchen? Unmöglich … Sie durfte Sage nicht zumuten, diese Tortur allein zu ertragen, und Liz auch nicht mit der kalten Leben spendenden Maschinerie allein lassen – Liz, der sie so viel schuldete. Wie konnte sie ihre eigenen Bedürfnisse vor die der beiden Frauen stellen?
Hoffentlich würde der Doktor annehmen, nur die Erschütterung über Liz’ Zustand hat mein idiotisches Benehmen verursacht, sagte sie sich. Ein Psychiater würde natürlich sofort erkennen, was los ist. Aber Liz’ Arzt ist kein Psychiater, Gott sei Dank. Der hat keinen Blick für so was. Wie albern von mir, diese Panik zu empfinden …
Aber niemand konnte sie zwingen, über die Vergangenheit zu reden, das alles in Gedanken noch einmal zu erleben. Sie sehnte sich nach Cottingdean zurück, nach dem Haus, wo sie sich so sicher und beschützt fühlte wie in einem mütterlichen Schoß. Als sie mit Sage das Auto erreichte, spürte sie ein heftiges Seitenstechen wie nach einem langen, schnellen Lauf. Doch es rührte von ihrer Anspannung her, von schmerzhaft verkrampften Muskeln.
Manchmal glaubte Faye, sie wäre ihr Leben lang auf der Flucht gewesen. Nur bei David hatte sie sich nicht bedroht gefühlt – und bei Liz, die alle ihre Geheimnisse kannte und sie davor bewahrte.
Liz … Natürlich, ich sollte an Liz denken, nicht an mich selbst, und um ihre Genesung beten, ermahnte sie sich. Nur
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