Schattenjahre (German Edition)
Thema zu sprechen. Und sie ahnte wohl auch, dass die Tante etwas verschwieg.
Am letzten Abend war Sage versucht gewesen, noch einmal nach unten zu gehen und weiterzulesen. Was den heutigen Abend betraf – sie wusste nicht, wie lange die Versammlung dauern würde. Sicher erwartete man von ihr, dass sie sorgfältig alle Einzelheiten notieren und später ihrer Mutter einen genauen Bericht vorlegen würde. Seltsam – jetzt, wo Liz unfähig war, das Verhalten ihrer Tochter zu beeinflussen, zwang sich Sage selbst, so zu handeln, wie es ihrer Mutter richtig erscheinen würde. Die Details bezüglich ihrer eigenen Arbeit behielt sie stets im Kopf. Niemals machte sie sich Notizen, zum Leidwesen ihrer Sekretärin. Nie ging sie methodisch vor, und es bereitete ihr sogar Vergnügen, von einem Schema abzuweichen und sich in scheinbar unkontrollierte Aktivitäten zu stürzen.
Und nun plante sie auf höchst penible Weise, in die geordneten Fußstapfen der Mutter zu treten, als würde sie damit eine heilige Mission erfüllen, Liz’ schwach flackernder Lebensflamme neue Kraft spenden.
Lächerlich – sentimentaler Unsinn … Und doch war der innere Zwang so übermächtig, dass sie ihm gehorchen musste.
4. KAPITEL
„Damit habe ich nicht gerechnet. Es kam mir fast so vor, als wäre Gran gar nicht da gewesen.“ Camilla erschauerte trotz der Zentralheizung im Krankenhaus.
„Sie steht unter der Einwirkung starker Medikamente“, erklärte Sage sanft. „Die Schwester sagte, man müsse dem Körper die Chance geben, den Schock des Unfalls und der Verletzungen zu überwinden.“
Camilla schluckte, dann fragte sie flehend wie ein kleines Kind: „Sie wird doch nicht sterben? Das darf sie nicht …“
„Darauf kann ich nicht antworten.“ Sage bemerkte die Hysterie, die in der Stimme ihrer Nichte mitschwang, und umarmte sie. „Nur eins weiß ich – genau wie du. Wenn jemand einen so schlimmen Unfall zu überleben vermag, dann ist es deine Großmutter.“ Nun bezweifelte sie, ob es klug gewesen war, das Mädchen in die Intensivstation mitzunehmen. Sie hatte das Mitleid in den Augen der Krankenschwester gesehen, als Camilla vor dem Anblick der Patientin inmitten der medizinischen Geräte, der reglosen Gestalt und der geschlossenen Augen zurückgeschreckt war. Allem Anschein nach ein hoffnungsloser Fall …
„Bitte, gehen wir – ich halte es nicht mehr aus“, flüsterte Camilla.
„Zuerst muss ich noch mit dem Arzt reden“, erwiderte Sage. „Warte doch im Auto, wenn dir das lieber ist. Vielleicht begleitet dich deine Mutter?“
Sie wandte sich zu Faye, die noch unglücklicher wirkte als das Mädchen und entschieden den Kopf schüttelte. „Nein, ich bleibe bei dir.“
Sage gab Camilla die Wagenschlüssel und beobachtete, wie ihre Nichte mit unsicheren Schritten den Korridor hinabging, dann biss sie sich auf die Unterlippe.
„Ich wusste, dass es ihr schlecht geht“, würgte Faye hervor. „Aber ich hätte nicht gedacht … O Gott, der Gedanke, sie zu verlieren, ist unerträglich. Ich glaubte, das Schlimmste wäre schon überstanden und die Genesung nur eine Frage der Zeit, aber jetzt … Ach, ich bin so selbstsüchtig! Sie ist deine Mutter, nicht meine.“
„Und deshalb muss ich sie inniger lieben?“ Sage lächelte grimmig. „Wie naiv du manchmal bist! Du kennst mein Verhältnis zu Mutter. Wir sind nie miteinander ausgekommen. Schon als Kind sehnte ich mich nach ihrer Liebe, bis ich begriff, dass ich niemals die Tochter sein würde, die sie sich wünschte – oder ein zweiter David. Das nehme ich ihr nicht übel. Im Gegensatz zu ihrem Sohn habe ich sie bitter enttäuscht. Wahrscheinlich kannst du das nicht nachempfinden. Die ganze Welt vergöttert meine Mutter und respektiert sie …“
„Ich verstehe nicht …“, flüsterte Faye fast unhörbar.
Erstaunt bemerkte Sage die unverhohlene Verzweiflung in den Augen der Schwägerin und wandte sich rasch ab, mit dem Gefühl, die Tür zu einem geheimen Zimmer geöffnet zu haben. Daraus zog sie sich mit der instinktiven Hast eines Menschen zurück, der es hasste, in die Privatsphäre anderer einzudringen, weil er großen Wert auf seine eigene legte.
„Sage …“
Die drängende Intensität, mit der Faye den Namen aussprach, veranlasste Sage, sie wieder anzuschauen. Sie wollte fragen, was denn los sei, aber in diesem Moment kam Dr. Alaric Ferguson auf sie zu, der Spezialist, den sie bereits kannte.
Er sah erschöpfter aus denn je. Geistesabwesend starrte er sie an und
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