Schattenkinder
haben einen. Und ich glaube, er funktioniert auch noch. Aber er steht in Vaters Arbeitszimmer im Vorderhaus und dort darf ich nicht hinein. Außerdem dürfte ich den Computer sowieso nicht anfassen.« Er erinnerte sich daran, wie er einmal, als er noch ganz klein war, vier oder fünf vielleicht, seiner Mutter in das Arbeitszimmer des Vaters nachgelaufen war, während sie dort sauber machte. Er hatte geglaubt, die Buchstabenreihen auf der Computertastatur seien ein Spielzeug, und er hatte einen Finger ausgestreckt und die Leertaste gedrückt, immer und immer wieder. Als die Mutter sich umdrehte, war sie fast ausgerastet.
»Jetzt können sie dich finden!«, hatte sie geschrieen. »Wenn sie aufgepasst haben, dann...«
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Danach hatte sie ihn wochenlang noch gewissenhafter versteckt als sonst und ihn jedes Mal in seinem Zimmer eingeschlossen, wenn sie nach draußen musste.
Jen verdrehte die Augen.
»Erzähl mir bloß nicht, dass deine Familie diesen Propaganda-Quatsch der Regierung glaubt«, sagte sie.
»Sie haben so viel Geld ausgegeben, um den Leuten einzureden, sie könnten alle Fernseher und Computer überwachen, dass sie es sich gar nicht mehr leisten können, es wirklich zu tun, weißt du. Ich benutze den Computer, seit ich drei bin - und den Fernseher übrigens auch -, aber sie haben mich nie erwischt. Wie war's mit einer Kerze?«
»Wie?« Luke brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass sie wieder von dem Zeichen sprach. »Die Kerzen sind alle in der Küche und dort...«
Jen und er sagten es gleichzeitig: »... darf ich nicht hinein.«
»Sie halten dich wirklich an der kurzen Leine, was?«, fragte sie.
»Nein, ich meine, ja. Aber sie wollen mich nur beschützen...«
Jen schüttelte den Kopf. »Ja, den Spruch kenne ich. Schon mal was von Ungehorsam gehört?«
»Ich...«, begann Luke abwehrend. »Schließlich bin ich hier, oder nicht?«
Jen lachte. »Eins zu null für dich. Aber hör zu. Wenn du weder Taschenlampe noch Kerzen benutzen kannst, warum lässt du nicht einfach ein Licht an, das ich sehen kann?«
Diesmal begriff Luke schneller, dass es ihr immer noch um das Zeichen ging.
»Das Licht am Hinterausgang. Das ist gar nicht zu übersehen.«
Er durfte zwar auch dieses Licht nicht anmachen, aber er wagte nicht noch einmal »darf ich nicht« zu sagen.
Seine ganze Unterhaltung mit Jen war auf diese Art verlaufen - sie spöttelte und er verteidigte sich, aber sie setzte immer ihren Kopf durch.
Natürlich, so nahm er sie innerlich in Schutz, hatte sie viel mehr von der Welt gesehen und gehört als er.
Nachdem er ihr auf dem Sofa seine Geschichte erzählt hatte, erzählte sie ihm ihre.
»Also, zunächst mal«, stellte sie trotzig klar, »meine Eltern haben mich mit Absicht bekommen. Vor dreizehn Jahren. Mom hatte bereits Bull und Brawn aus ihrer ersten Ehe...«
»Deine Brüder?«, fragte Luke.
»Ja. Buellton und Brownley, so heißen sie wirklich, aber sind das vielleicht Namen für zwei Knallköpfe wie die beiden? Mom steckte mit Ehemann Nummer eins wohl gerade in einer spießigen Upper-Class-Phase.«
»Sie hatte mehr als einen Ehemann?«, staunte Luke. Er wusste gar nicht, dass das möglich war.
»Klar«, sagte Jen. »Dad - in Wirklichkeit ist er mein Stiefvater - ist Nummer drei.«
Luke fand das so verwirrend, dass er lieber gleich den Mund hielt.
»Egal«, meinte Jen. »Jedenfalls wollte Mom unbedingt ein kleines Mädchen. Also ist sie, als sie noch mit Ehemann Nummer zwei zusammen war, zu irgendeinem Arzt gegangen und hat ihm einen Haufen Geld bezahlt, um schwanger zu werden.«
»Und wenn du nun ein Junge geworden wärst?«, fragte Luke.
»Oh, sie waren bei einem der ersten Geschlechtswahlexperimente dabei.« Luke musste wohl ganz besonders ratlos dreingeschaut haben, denn sie erklärte es ihm. »Das bedeutet, sie haben schon dafür gesorgt, dass ich ein Mädchen werde. Ärzte können so was, aber die Regierung hat das Verfahren verboten, weil sie Angst
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hatten, dass es die Bevölkerung noch mehr aufwühlt. Ich bin sicher, dass meine Eltern jede Menge Geld dafür bezahlt haben. Haben deine Eltern sich auch ein Mädchen gewünscht?«
Luke dachte darüber nach. Mutter hatte gesagt, dass sie sich immer vier Jungen gewünscht hatte, fiel ihm ein, aber vielleicht hätte sie noch lieber ein Mädchen gehabt? Ein weibliches Wesen wie sie selbst? Er konnte sich ein Mädchen in seiner
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