Schattenkinder
zur Hintertür zurück.
»Aber der Alarm war echt, nicht wahr?«, fragte er. »Und ihr habt Wachmänner?«
– 32 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Klar. Hat die nicht jeder?« Das Mädchen sah Luke genauer an. »Hm. Vielleicht nicht.«
Sie machte eine entschuldigende Geste, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte. Luke entschloss sich diese Beleidigung einfach zu überhören.
»Wissen die Wachmänner, dass du hier bist?«, fragte er.
»Natürlich nicht«, erwiderte das Mädchen. »Wenn sie herkämen, müsste ich mich verstecken. Eigentlich glaube ich, dass sich meine Familie die Alarmanlage nur zugelegt hat, um sicherzugehen, dass ich im Haus bleibe. Sie haben keine Ahnung, dass ich sie ausschalten kann. Aber...«, sie grinste ihn verschmitzt an,
»manchmal lasse ich sie einfach zum Spaß losgehen.«
»Das findest du lustig?«, fragte Luke. Er hatte geglaubt, ein anderes drittes Kind würde ihn verstehen, es müsse genau so sein wie er. Aber dieses Mädchen hier war bestimmt nicht so wie er. »Hast du denn keine Angst, dass die Wachmänner dich finden könnten?«
»Eigentlich nicht.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Außerdem hat es uns heute geholfen, dass ich sie manchmal absichtlich losgehen lasse - mein Vater hat nicht mal richtig gefragt, warum die Anlage ausgeschaltet werden muss. Er hat einfach geglaubt, ich hätte wieder Mist gebaut.«
Auf eine verdrehte Art und Weise hatte sie Recht. Aber Luke schwirrte der Kopf bei dem Versuch, das alles zu verstehen. Er schielte zur Tür hinüber. Wenn er nur sicher nach Hause gelangen könnte, würde er sich bestimmt nie wieder über Langeweile beklagen. Hier fühlte er sich so genarrt wie Alice im Wunderland in einem der alten Bücher oben auf dem Dachboden. Oder - ihm fiel etwas ein, das er in einem der Naturbücher gelesen hatte - vielleicht wie die Beute einer Schlange, die ihr Opfer hypnotisiert, ehe sie es verspeist. Er glaubte zwar nicht, dass das Mädchen ihm etwas tun wollte, aber wer weiß, vielleicht hielt sie ihn so lange hin, bis die Bevölkerungspolizei oder die Wachmänner oder sonst jemand kam.
Das Mädchen bemerkte seinen Blick.
»Mache ich dir Angst?«, fragte sie. »Schattenkinder können so schreckhaft sein. Aber hier bist du sicher.
Wollen wir noch mal von vorne anfangen? Möchtest du dich nicht hinsetzen, äh - wie heißt du eigentlich?«
Luke sagte es ihr.
»Schön, dich kennen zu lernen«, sagte das Mädchen und schüttelte ihm die Hand, dass er irgendwie das Gefühl hatte, sie mache sich über ihn lustig. Dann führte sie ihn zu einem der beiden Sofas in dem Zimmer, das er zuerst betreten hatte. Sie hockte sich neben ihn. »Ich bin Jen. Eigentlich heiße ich Jennifer Rose Talbot. Aber sehe ich vielleicht wie eine Jennifer aus?«
Sie schüttelte den Kopf und machte die Arme breit, als müsse er das an ihrem knittrigen Sweatshirt und dem zerzausten Haarschopf erkennen können.
Luke seufzte.
»Keine Ahnung. Ich kenne keine Jennifers. Nur Matthew und Mark und Mutter und Vater.« Er wusste, dass seine Eltern mit Vornamen Edna und Harlan hießen, aber er fragte sich, ob er das nicht lieber für sich behalten sollte. Für alle Fälle. Wahrscheinlich hätte er besser nicht einmal Matthew und Mark erwähnen sollen, aber es war alles so überraschend gekommen - die Vorstellung, dass es außerhalb seines Zuhauses eine Welt voller Menschen gab und eine Welt voller Namen, von denen er noch nie gehört hatte.
»Hmmm«, sagte das Mädchen. »Dann erkläre ich es dir besser - eine Jennifer sollte eigentlich, tja, richtig mädchenhaft und etepetete sein. Jedenfalls ziehen wir meine Mutter damit immer auf. Sie hätte gern ein nied-liches kleines Mädchen gehabt, das sie in hübsche Spitzenkleider stecken und dann in die Ecke setzen kann.
Wie eine Puppe.« Sie machte eine Pause. »Sind Matthew und Mark deine großen Brüder?«
Luke nickte.
»Du bist also noch nie jemandem begegnet, der nicht zu deiner Familie gehört?«
Luke schüttelte den Kopf. Jen sah so erstaunt aus, dass er das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen.
»Du vielleicht?«, fragte er fast ebenso herausfordernd, wie er es manchmal bei Mark tat.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Ehrlich gesagt, ja«, antwortete sie.
»Aber du bist doch auch ein drittes Kind«, wandte Luke ein. »Ein Schattenkind, oder nicht?«
Plötzlich war ihm, als würde er gleich losweinen, wenn er nicht aufpasste. Sein ganzes Leben lang hatte man ihm
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