Schattenkinder
trug sie Jeans und ein graues Sweatshirt, nichts anderes also als das, was die beiden Jungen der Sport-Familie immer anhatten, und ihr dunkles Haar war fast ebenso kurz wie Lukes. Aber die Form ihres Gesichts, die Art, wie sie den Kopf schief legte und ihr Sweatshirt sich um ihren Körper legte oder auch nicht - all das gab Luke das sichere Gefühl, dass sie nicht so war wie er.
Er errötete. Dann musste er schlucken.
Das Mädchen wandte den Kopf.
– 30 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Ich...«, krächzte Luke.
Ehe er sich auch nur auf ein weiteres Wort besinnen konnte, war das Mädchen schon quer durch den Raum geschossen und hatte ihn umgeworfen. Sie drückte ihn auf den Boden, drehte ihm die Arme auf den Rücken und presste sein Gesicht in den Teppich. Luke versuchte verzweifelt den Kopf zu drehen, um Luft zu holen.
»So«, zischte ihm das Mädchen ins Ohr. »Du glaubst also, du kannst dich einfach an ein armes, unschuldiges Mädchen ranschleichen, das ganz allein zu Hause ist? Wahrscheinlich hat dir keiner von unserer Alarmanlage erzählt. In dem Moment, in dem du unser Grundstück betreten hast, ist bei unseren Wachmännern ein Alarmruf eingegangen. Sie werden jeden Moment hier sein.«
Luke ergriff die nackte Angst. So also würde er sterben. Er musste es ihr erklären. Er musste flüchten.
»Nein«, sagte er. »Sie dürfen nicht kommen. Ich...«
»Ach ja?«, feixte das Mädchen. »Das wirst du nicht verhindern können! Oder was glaubst du, wer du bist?«
Luke hob den Kopf, so weit es ging. Er sagte einfach das Erstbeste, was ihm einfiel.
»Bevölkerungspolizei.«
Das Mädchen ließ los.
– 31 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 15
Luke setzte sich auf und betastete seine Arme, um festzustellen, ob sie ihm auch nichts gebrochen hatte.
»Du lügst«, sagte das Mädchen.
Aber sie machte keine Anstalten, ihn wieder anzugreifen. Sie ging in die Hocke und sah einen Moment lang ratlos aus. Dann grinste sie.
»Ich hab's! Du bist auch einer. Tolle Parole. Die sollte ich mir für die Kundgebung merken.«
Nun war Luke an der Reihe ein verdutztes Gesicht zu machen.
Das Mädchen kicherte.
»Du bist auch ein Schattenkind, stimmt's?«
»Schatten...?« Luke fragte sich, warum sein Gehirn so langsam arbeitete. Lag es daran, dass sie ihm kilometerweit voraus zu sein schien?
»Benutzt du ein anderes Wort dafür?«, fragte sie. »Ich dachte, >Schattenkind< sei der allgemeine Ausdruck dafür. Aber du weißt, was ich meine, ein illegales Kind, jemand, dessen Eltern gegen das Bevölkerungsgesetz Nr. 3903 verstoßen haben. Ein drittes Kind.«
»Ich...« Luke konnte es einfach nicht zugeben. Aber er hatte heute so viele Tabus gebrochen, das Haus verlassen, im offenen Garten gestanden, mit einer Fremden gesprochen. Was sollte ein weiterer Verstoß da noch ausmachen?
»Sag es ruhig«, redete ihm das Mädchen zu. >»Ich bin ein drittes Kind.< Daran ist doch nichts Schlimmes.«
Die Antwort blieb Luke erspart, denn das Mädchen sprang plötzlich auf und rief: »O nein! Der Alarm!«
Sie rannte in den Flur und bog um die Ecke. Luke folgte ihr und sah, wie sie eine Schranktür aufriss und auf einer Tafel voller bunter Lichter verschiedene Knöpfe drückte.
»Mist! Zu spät!«
Sie rannte zum Telefon und Luke folgte ihr gespannt. Sie wählte. Luke sah ihr erstaunt zu. Er hatte noch nie telefoniert. Seine Eltern hatten ihm erzählt, die Regierung könne Gespräche zurückverfolgen, sie könne erkennen, ob die Stimme am Telefon jemandem gehörte, der existieren darf oder nicht.
»Dad...« Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß, ich weiß. Ruf den Sicherheitsdienst an und sag ihnen, sie sollen den Alarm abstellen, okay?« Stille. »Und darf ich dich daran erinnern, dass die Strafe für das Verstecken eines Schattenkindes fünf Millionen Dollar beträgt oder Exekution, je nach Stimmungslage des Richters?«
Sie sah Luke an und rollte mit den Augen, während sie sich eine scheinbar sehr lange Antwort anhörte.
»Na ja, du weißt, so was kommt eben mal vor.« Wieder Stille. »Ja, ja. Ich hab dich auch lieb. Danke, Dad.«
Sie hängte auf. Luke überlegte, ob er nach Hause zurückrennen sollte, ehe die Bevölkerungspolizei tatsächlich auftauchte.
»Jetzt können sie dich finden«, meinte er. »Durch das Telefon...«
Das Mädchen lachte.
»Das behaupten sie. Dabei weiß jeder, dass die Regierung dafür gar nicht kompetent genug ist.«
Luke zog sich für alle Fälle Stück für Stück
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