Schattenkinder
zu müssen.
Aber das Wetter zeigte sich gnädig in diesem Winter - es war die meiste Zeit über trocken und klar. Es gab zwar keine blätterbehangenen Bäume mehr, hinter denen sich Luke verstecken konnte, aber trotzdem fühlte er sich allmählich sicherer, wenn er durch seinen und Jens Garten schlich. Gegen Mitte Januar konnte er den ganzen Weg zurücklegen, ohne dass sein Herz dabei überhaupt schneller schlug als sonst. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwelche Barone aus den anderen Häusern ihn erspähten, schien zu gering, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Seine einzige Sorge war sein Vater.
Normalerweise hielt er sich im Winter häufig im Haus auf. Und da er sich nun nicht mehr um die Schweine kümmern musste, hätte es gut sein können, dass er sogar noch öfter als sonst zu Hause wäre und es Luke darum überhaupt nicht mehr möglich sein würde, hinüberzuschleichen. Aber seit einer Weile fuhr der Vater morgens häufiger in die Stadt. An diesen Tagen rief er Luke nur kurz hinauf: »Ich fahr in die Bibliothek. Du hast für mittags ja genug Essen oben, nicht?« oder »Drüben bei Slyton gibt es Plastikröhren, die ich mir ansehen will. Sag das den Jungen, wenn sie aus der Schule kommen, hörst du?«
»Es ist die Idee mit der Hydrokultur«, brüstete sich Luke eines Tages gegen Ende Januar vor Jen, als sie zusammen vor dem Computer saßen. »Ich habe meinem Vater die Idee in den Kopf gesetzt und jetzt ist er viel zu beschäftigt, um zu merken, was ich tue.«
»Was ist Hydrokultur?«, wollte Jen wissen.
»Es stand in einem deiner Bücher - es geht darum, Pflanzen in Behältern ohne Erde zu züchten, nur mit Wasser und besonderen Nährstoffen.«
»Oh«, meinte Jen. »Und er glaubt, die Regierung würde ihm das wirklich erlauben?«
»Das nehme ich an«, sagte Luke. »Warum sollte sie es nicht tun?«
Jen zuckte die Achseln. »Warum tut oder lässt die Regierung überhaupt irgendwas?«
Darauf hatte Luke keine Antwort. Jen konzentrierte sich wieder auf den Computer-Chatroom, in dem sämtliche Teilnehmer über das Thema >falsche Ausweise< diskutierten.
Carlos: Mom meint sie würden mir erst einen kaufen, wenn ich achtzehn bin, weil sie glaubt dass die Regierung bei einem Erwachsenen nicht so leicht misstrauisch wird und dass die Ausweise dann vielleicht billiger sind.
Pat: Sean und ich kriegen sie wahrscheinlich erst wenn wir neunzig sind. Jedenfalls sparen Mom und Dad dafür schon so lange, wie ich denken kann.
Yolanda: Mein Vater sagt, er will einen, der hundertprozentig sicher ist. Er meint, es sind zu viele schlechte im Umlauf.
Jen begann wie wild zu tippen: »Wer braucht schon einen falschen Ausweis? Carlos, wahrscheinlich kriegen deine Eltern einen mit dem Namen John Smith< und dann musst du dich den Rest deines Lebens damit abplagen, als Weißer durchzugehen. Meine Eltern beknien mich seit Jahren - sie wollen mir unbedingt einen falschen Ausweis besorgen, aber das mache ich nicht. Einen Ausweis will ich nur, wenn ich einen haben kann, in dem >Jen Talbot< steht und der wirklich mir gehört.
Habt ihr denn alle die Kundgebung vergessen? Wir werden alle echte Ausweise bekommen, in denen steht, wer wir wirklich sind!!! WIR SIND KEINE FÄLSCHUNGEN! UND WIR SOLLTEN UNS NICHT VERSTECKEN
MÜSSEN!«
Sie drückte so energisch auf die Eingabetaste, dass der ganze Computer wackelte.
»Aber Jen«, meinte Luke schüchtern, »ich dachte, du hättest einen falschen Ausweis benutzt, um mit deiner Mutter einkaufen zu gehen. Du bist ihre Nichte, steht darin.«
Jen funkelte ihn an.
– 50 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Nein, das war nur ein Einkaufspass«, sagte sie. »Den benutze ich auch nicht gern, aber ich kann mich schließlich nicht völlig gegen meine Eltern stellen. Wovon hier die Rede ist« - sie deutete auf den Bildschirm -
».»ist das Annehmen einer falschen Identität, für immer. Die meisten Schattenkinder tun das irgendwann - sie gehen weg, um bei einer anderen Familie zu leben und für den Rest ihres Lebens so zu tun, als wären sie jemand, der sie gar nicht sind.«
»Du würdest dich also lieber verstecken?«, fragte Luke. Er versuchte sich vorzustellen einen anderen Namen anzunehmen, bei einer anderen Familie zu leben und ein anderer Mensch zu sein. Es ging nicht.
»Nein, natürlich will ich mich nicht lieber verstecken«, sagte Jen ärgerlich. »Aber sich einen falschen Ausweis zu besorgen - das ist nur eine andere Art von Verstecken. Ich will ich selber sein und
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