Schattenkinder
haben, um dir neue Schuhe zu kaufen.«
Mark hörte auf zu lachen.
»Wir schaffen es schon«, sagte die Mutter leise. »Wir haben es immer geschafft.«
Der Vater schob seinen Stuhl zurück.
»Warum habe ich mir keine Genehmigung besorgt?«, sagte er ohne jemanden im Besonderen anzusprechen.
»Wenn ich mir eine Genehmigung hole, dann...«
In der Zwischenzeit hatte Luke den Brief zu Ende gelesen.
»Sie erteilen keine Hydrokultur-Genehmigungen«, sagte er. »Hier steht, dass es in jedem Fall illegal ist.«
Diesmal starrte der Vater ihn nur an.
Luke spürte die Enttäuschung seines Vaters und beim Anblick seiner von Geldsorgen geplagten Eltern hörte er eine kleine Stimme in seinem Kopf flüstern: Wenn es dich nicht gäbe, könnten sie sich vielleicht alles leisten, was sie sich wünschen. Dabei aß er gar nicht so viel und alle seine Kleider waren abgelegte Sachen von Matthew und Mark. Und was mochte es schon kosten, den Dachboden zu beheizen? Manchmal entdeckte er Eiskristalle an dem Stuhl, auf dem er saß, um die Nachbarschaft zu beobachten. Er versuchte die Stimme zu ignorieren.
Viel schlimmer war es, dass sein Vater, seit er sich nicht mehr mit dem Anbau von Hydrokulturen beschäftigen durfte, für den Rest des Winters kaum noch den Hof verließ. Luke kam im ganzen Februar nur einmal hinüber zu Jen und zweimal im März, als der Vater losfuhr, um sich nach dem günstigsten Saatgut umzusehen.
Dafür begrüßte ihn Jen jedes Mal mit herzlichen Umarmungen und war ganz aus dem Häuschen vor Wiedersehensfreude. Ihr Wutanfall vom Januar schien vergessen. Bei einem dieser Treffen stellten die beiden beim Plätzchenbacken die Küche der Talbots völlig auf den Kopf.
»Werden deine Eltern denn nicht sauer sein?«, fragte Luke, als Jen ihn rüffelte, weil er versuchte die mehligen Fingerabdrücke von den Schränken, dem Kühlschrank und dem Herd abzuwischen.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Du machst wohl Witze. Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist. Meine Eltern werden entzückt sein, wenn sie diese Anzeichen töchterlicher Häuslichkeit entdecken«, erklärte Jen.
Beim zweiten Mal breiteten sie sich auf dem Fußboden im Wohnzimmer aus, wo sie den ganzen Vormittag über Brettspiele spielten.
Den dritten Tag verbrachten sie ganz und gar mit Gesprächen. Jen fesselte Luke mit Geschichten über Orte, die sie besucht, Leute, die sie getroffen, und Dinge, die sie gesehen hatte.
»Als ich noch klein war, ist Mom immer mit mir zu einer Spielgruppe gegangen, in der lauter andere Schattenkinder waren«, erzählte Jen. Sie kicherte. »Der Witz dabei war, dass es allesamt Kinder von Regierungsangestellten waren. Ich glaube, einige Eltern mochten Kinder eigentlich gar nicht - für sie war es einfach schick, das Bevölkerungsgesetz zu brechen und damit durchzukommen.«
»Was habt ihr in der Spielgruppe gemacht?«, fragte Luke.
»Gespielt natürlich. Alle hatten jede Menge Spielzeug. Eines der Kinder hatte sogar einen Hund, der ab und zu mitkam. Und wir haben ihn dann abwechselnd mit Hundekuchen gefüttert.«
»Diese Leute hatten sogar Haustiere?«, staunte Luke ungläubig.
»Na ja, es waren eben Barone«, meinte Jen.
Luke seufzte. Er sank tiefer in die weichen Polster des Sofas, das so ganz anders war als das, was er von zu Hause kannte.
»Mein Vater hat erzählt, als er noch klein war, hatten fast alle Leute, die er kannte, Haustiere. Er hatte einen Hund, der Bootsy hieß, und eine Katze namens Stripe. Er erzählt immer wieder von ihnen. Warum hat die Regierung Haustiere verboten?«
»Na, du weißt schon, wegen dem Essen«, sagte Jen. Sie nahm einen Schokoladenkeks aus der Packung, die sie sich gerade teilten, und schwenkte ihn bedeutsam durch die Luft. »Ohne Hunde und Katzen gibt es mehr Essen für die Menschen. Mein Dad sagt, wenn die Barone nicht die Gesetze brechen würden, wären viele Tierarten schon längst ausgestorben.«
Luke betrachtete den Keks in seiner Hand. Musste er jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen haben, weil das Essen, das er aß, nicht nur für andere Menschen, sondern auch für Tiere bestimmt war?
Jen bemerkte seinen Gesichtsausdruck. »He, sei doch nicht doof«, sagte sie. »Es ist doch alles nur Getue, schon vergessen? Es gibt mehr als genug zu essen auf der Welt, besonders jetzt, wo nicht mehr genug Babys geboren werden.«
»Wie bitte?«, fragte Luke.
»Na, neben dem Bevölkerungsgesetz hat die Regierung doch diese riesige Kampagne gestartet, die den
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