Schattenkinder
Hand nach dem Gewehr griff und es ihm entriss. Er hörte eine Stimme immer wieder »Nein! Nein! Nein!« schreien und erkannte sie kaum als seine eigene.
»Hör auf!«, brüllte Jens Vater. »Hör auf, du Idiot, bevor du uns beide umbringst...«
Irgendwie hielt jetzt Luke das Gewehr in der Hand. Jens Vater stürzte sich auf ihn und Luke sah ihn im Geiste auf sich losgehen, wie Jen vor vielen Monaten auf ihn losgegangen war. Aber dieses Mal trat Luke im letzten Moment zur Seite und Jens Vater prallte gegen die Wand. Luke richtete das Gewehr auf ihn und musste sich anstrengen, um es ruhig zu halten.
Jens Vater drehte sich langsam um.
»Du kannst mich erschießen«, sagte er und hob hilflos die Hände. »Vielleicht wäre ich dir sogar dankbar dafür, dass ich Jen dann nicht länger vermissen musste. Aber es wäre trotzdem falsch. Ich schwöre dir, bei allem, was mir heilig ist - ich schwöre bei Jens Namen -, dass ich auf deiner Seite bin.«
Jens Vater sah Luke in die Augen und wartete. Luke spürte einen gewissen Stolz in sich aufsteigen, dass er die Oberhand gewonnen hatte, dass er das Recht verdient hatte, zu entscheiden, was als Nächstes geschah.
Aber woher sollte er wissen, was richtig war? Jens Vater würde doch sicher nicht beim Namen seiner Tochter lügen, oder doch?
Luke machte die Augen fest zu. Dann ließ er das Gewehr sinken.
»Gut«, sagte Jens Vater und atmete erleichtert aus.
Luke ließ zu, dass er näher kam, das Gewehr nahm und es auf den Tisch legte.
»Ich wollte es dir gerade erklären«, sagte Jens Vater ein wenig atemlos. Er setzte sich. »Ich arbeite zwar im Hauptquartier der Bevölkerungspolizei, aber ich bin nicht einverstanden mit dem, was sie tun. Ich versuche sie zu sabotieren, wo immer ich kann. Jen hat das auch nie verstanden - manchmal muss man hinter den feindlichen Linien operieren.«
Jens Vater erzählte und erzählte und erzählte. Luke hatte das Gefühl, dass er alles zwei- oder dreimal er-klärte, aber das war in Ordnung, denn sein Gehirn funktionierte so langsam, dass er die Unterstützung gebrauchen konnte.
»Kennst du dich in Geschichte aus?«, fragte Jens Vater.
Luke versuchte sich zu erinnern, ob es in der Sammlung seiner Familie oben auf dem Dachboden auch Ge-schichtsbücher gab. Zählten Abenteuergeschichten aus früheren Zeiten dazu?
»Nur...« Er räusperte sich. »Nur, was ich aus den Büchern weiß, die Jen mir geliehen hat.«
»Welche waren das?«
Luke deutete auf die Werke im Regal über dem Computer.
»Und ein paar ausgedruckte Artikel aus dem Computer hat sie mir auch gegeben.«
Jens Vater nickte. »Also hast du die Propaganda von beiden Seiten gelesen. Aber nicht die Wahrheit.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Luke.
»Die Regierungspublikationen wollen die Leute von einer bestimmten Sache überzeugen, also helfen sie der Wahrheit ein bisschen auf die Sprünge. Und im Untergrund sind sie auf ihre Art genauso extrem und deuten die Statistiken so, wie es ihnen in den Kram passt. Du weißt also gar nichts.«
– 68 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Jen hat gesagt, dass in den Computerausdrucken die Wahrheit steht«, verteidigte sich Luke. Schon allein ihren Namen auszusprechen tat weh. Und jetzt war sie tot. Aber wie konnte sie tot sein?
Jens Vater wischte seine Bemerkung mit einer Handbewegung fort. »Sie hat geglaubt, was sie glauben wollte.
Und ich fürchte...« Er brach ab und Luke hatte Angst, dass er wieder weinen würde. Dann schluckte der Mann schwer und fuhr fort: »Ich fürchte, ich habe sie dabei unterstützt. Ich habe einseitiges Material an sie weitergegeben, weil ich ihr Hoffnung machen wollte, dass das Bevölkerungsgesetz eines Tages aufgehoben wird. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ... dass sie...«
Luke wusste, er würde es nicht aushaken, Jens Vater noch einmal zusammenklappen zu sehen.
»Und was sollte ich dann wissen?«, fragte er. »Was ist die Wahrheit?«
»Die Wahrheit«, murmelte Jens Vater und griff die beiden Worte auf, als hätte Luke ihm eine Rettungsleine zugeworfen. Er fasste sich schnell. »Das weiß niemand genau. Es gibt schon viel zu lange zu viele Lügen. Wir haben eine totalitäre Regierung und totalitäre Regierungen mögen die Wahrheit nicht.«
Für Luke ergab das keinen Sinn, aber er ließ Jens Vater weiterreden.
»Weißt du über die Hungersnöte Bescheid?«
Luke nickte.
»Vor den Hungersnöten glaubte man in unserem Land an Freiheit, Demokratie und Gleichheit für alle. Dann kamen die
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