Schattenkinder
»Und du hättest sie auch nicht aufhalten können. Es ist nicht deine Schuld.
Schuld sind ganz andere Leute. Wahrscheinlich hätten sie auch tausend erschossen. Oder fünfzehntausend.
Das ist ihnen egal.«
Sein Gesicht verzerrte sich. Luke glaubte noch nie einen solchen Schmerz gesehen zu haben, nicht einmal damals, als Matthew sich den Vorschlaghammer auf den Fuß fallen ließ. Tränen begannen dem Mann über das Gesicht zu laufen.
»Was ich nicht verstehe, ist - warum sie das gemacht hat, diesen Kinderkreuzzug. Sie war doch nicht dumm.
Wir haben sie von klein auf vor der Bevölkerungspolizei gewarnt. Hat sie wirklich geglaubt, die Kundgebung würde Erfolg haben?«, fragte er.
»Ja«, versicherte Luke. Und mit einem Mal fiel ihm ein, was sie als Letztes gesagt hatte: Wir können hoffen -
und das, nachdem sie ihm vorgeworfen hatte, dass Hoffen zwecklos sei. Vielleicht war ihr bewusst, dass die Kundgebung fehlschlagen würde. Vielleicht war ihr sogar bewusst, dass sie wahrscheinlich sterben würde. Er erinnerte sich daran, wie sie sich bei ihrer ersten Begegnung selbst die Hand verletzt hatte, um sein Blut auf dem Teppich zu vertuschen. Jen hatte etwas an sich, das er nicht ganz verstand, das sie dazu brachte, sich aufzuopfern, um anderen zu helfen. Oder es wenigstens zu versuchen.
»Ich denke, am Anfang hat sie wirklich an den Erfolg der Kundgebung geglaubt«, erklärte er Jens Vater. »Und selbst als sie nicht mehr sicher war ... musste sie trotzdem hingehen. Sie wollte sie auf keinen Fall absagen.«
»Aber warum?«, schluchzte Jens Vater. »Wollte sie denn sterben?«
»Nein«, sagte Luke. »Sie wollte leben. Sie wollte nicht sterben, sich nicht verstecken, sondern leben.«
Immer wieder hallten die Worte durch seinen Kopf:
Sich nicht verstecken, sondern leben. Sich nicht verstecken, sondern leben. Solange er die Worte festhielt, hatte er das Gefühl, dass Jen da war. Sie war nur kurz hinausgegangen - vielleicht um mehr Kartoffelchips zu holen - und sie würde gleich zurückkommen und ihm einen Vortrag darüber halten, dass sie beide etwas Besseres verdient hatten als sich ein Leben lang zu verstecken. Fast meinte er ihre Stimme zu hören.
Aber wenn er sie losließ, wenn die Worte auch nur für einen Moment verstummten, war er verloren. Es war, als wirbele die ganze Erde auf und davon, er war ganz allein. Komm zurück, Jen!, wollte er rufen - als könnte sie ihn hören, das Wirbeln beenden und zu ihm kommen.
Wie aus weiter Ferne hörte Luke, dass Jens Vater seufzte und sich dann gefasst die Nase schnauzte.
»Ich muss dir etwas sagen...«, begann er, »aber...«
Luke hob geistesabwesend den Kopf und hörte halbherzig zu.
»Als du dich in diesen Chatroom eingeloggt hast«, fuhr Jens Vater fort, »hast du damit im Hauptquartier der Bevölkerungspolizei einen Alarm ausgelöst. Der Chatroom wird genau überwacht - sie haben ihn nach der Kundgebung entdeckt. Ich konnte ... äh, gewisse Dinge über Jen vertuschen, aber deine Nachricht werden sie bis zu unserem Computer zurückverfolgen. Im Augenblick ist die Bevölkerungspolizei etwas im Rückstand, weil sie immer noch Hinweisen über die Kundgebung nachgeht, also bleiben mir wohl ein, zwei Tage, um mir eine einleuchtende Erklärung auszudenken. Aber wenn sie zu sorgfältig nachprüfen, könntest du in Gefahr sein.«
»Mehr als sonst?«, fragte Luke sarkastisch.
Jens Vater nahm die Frage ernst.
»Ja. Denn jetzt werden sie gezielt nach dir suchen. Sie werden jedes Haus in der Nachbarschaft durchkämmen und nicht lange brauchen, um dich zu finden.«
Luke lief es eiskalt über den Rücken. Also würde er sterben, genau wie Jen. Oder nicht wie sie - denn sie war mutig gestorben. Ihn würde man fangen wie eine Maus in ihrem Loch.
– 66 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Aber wenn du willst«, fuhr Jens Vater fort, »kann ich dir falsche Papiere besorgen. Du kannst über alle Berge sein, ehe sie überhaupt anfangen nach dir zu suchen.«
»Das würden Sie für mich tun?«, fragte Luke. »Warum?«
»Wegen Jen.«
»Und wie?«
»Ich habe Verbindungen, weil ich...« - er zögerte - »ich arbeite für die Bevölkerungspolizei.«
– 67 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 28
Luke fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören. Sein Gehirn schien plötzlich keinerlei Kontrolle mehr darüber zu haben, was sein Körper tat. Er spürte, wie seine Beine aufsprangen und auf Jens Vater losstürmten. Er sah, wie seine eigene
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