Schattenkrieg
so, als ob er tatsächlich Gäste erwartet hatte. Auf dem Tisch standen zwei Krüge. Es duftete nach Met und Gewürzhölzern. Von seiner Sippschaft fehlte jede Spur – vermutlich befanden sie sich auf der Insel Sekken zu den Samhain-Festlichkeiten, wo eigentlich auch Nerin hätte sein sollen.
»Häuptling Nerin …« Derrien deutete eine Verbeugung an.
»Nenn mich nicht Häuptling. Es ist schon längst an der Zeit, dass ich dieses Amt weitergebe.« Erst jetzt wandte sich der Alte zu ihm um.
Nerin sah älter aus als seine siebzig Jahre. Ein schütterer grauer Bart konnte die Sicht auf die faltige Haut darunter nicht verbergen. Große Altersflecke ergaben einen scharfen Kontrast zu seiner eigentlichen Blässe. Die Augen jedoch, kohlrabenschwarz und im Licht der Fackeln spöttisch funkelnd, zeugten davon, dass in diesem alten Körper ein noch sehr aufmerksamer Geist steckte.
»Ich hätte mehr von dir erwartet, Derrien«, stichelte Nerin weiter. »Was bist du für ein Waldläufer, dass es dir nicht einmal gelingt, dich an einen alten Mann heranzuschleichen?«
Das selbstgefällige Lächeln, das
so
typisch für den Häuptling war, ließ Derrien mit den Zähnen knirschen. Doch anstelle des ausfälligen Kommentars, der ihm auf den Lippen lag, zuckte er nurmit den Schultern. »Der Wächtergeist der Stadt wird Euch von meiner Ankunft berichtet haben.«
Nerin nickte. »Und du hast keine Mittel und Wege, dich vor seinen Augen verborgen zu halten?«
Innerlich verdrehte Derrien die Augen. Der Alte wollte die Verantwortung abgeben, die auf seinen Schultern lastete, wollte nicht einmal mehr Häuptling genannt werden – aber auf die kleinlichen Machtdemonstrationen seiner Position zu verzichten schien ihm schwerzufallen.
»Ich hätte vielleicht nicht an Eurem Wächtergeist vorbeischleichen können,
Häuptling
«, gab er verärgert zurück, »aber wenn es lebensnotwendig gewesen wäre, unentdeckt zu bleiben, so hätte ich ihn
vernichten
können!« Wenn der Alte Wert auf solche Spielchen legte, sollte er sie haben!
»So, meinst du das?« Nerin zog amüsiert die Augenbrauen nach oben.
»Ja, das meine ich.« Derrien verschränkte die Arme. »Mein ganzes Leben lang höre ich Euch davon sprechen, dass die germanischen Wurzeln Norwegens unsere keltischen Geister nicht erstarken lassen. Warum sollte ich dann Euren Wächtergeist fürchten?«
Der Alte ließ eine kurze Pause entstehen. Ein Windstoß fuhr durch die noch immer offen stehende Tür, zerrte an Derriens Kleidung, rüttelte an den Fensterläden und ließ das Feuer auflodern. Funken stoben in den Raum, als der Häuptling mit entseelter Stimme sagte: »Weil Samhain ist.«
Es war nicht schwer, die Taschenspielertricks zu durchschauen, die der Zauberer verwendete – dennoch erfüllten sie ihren Zweck.
Samhain …
Es hieß, dass zu Samhain die Verbindung zur Welt der Toten offen stand. Derrien verstand nicht genug vom Wesen der Geister, um zu wissen, wie Samhain auf sie wirkte.
Sein Schweigen schien den Alten davon überzeugt zu haben, dass er die Auseinandersetzung für sich entschieden hatte. »Setz dich und trinke mit mir!«, forderte er ihn auf. »Es ist sehr kalt draußen.«
»Kälte macht mir nichts aus«, grummelte Derrien. Dennoch rückte er den Stuhl gegenüber dem Alten zurecht und nahm darauf Platz.
»Ach ja, ich vergaß – eine deiner Eichenkräfte, die übernatürliche Zähigkeit. Nun, wo ich alt geworden bin, wäre ich gern selbst eine Eiche. Aber ich schweife ab. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, bei meinem Amt …«
Derrien erwiderte nichts. Er wusste bereits, worauf der Alte hinauswollte – ein solches oder ein ähnliches Gespräch hatten sie in den letzten Jahren schon öfter geführt. Stattdessen griff er nach dem Krug und nahm einen kräftigen Schluck. Der Met war warm und noch süßer, als er erwartet hatte. Zuckerte Nerin seinen Met etwa noch zusätzlich?
Der Zauberer schien zu erkennen, dass Derrien ihm bei dem Gespräch nicht weiterhelfen würde. »Du weißt, dass du der beste Kandidat bist, sowohl für den Fürstenrat in Dùn Robert als auch für meine Nachfolge.«
Derrien zuckte nur wieder mit den Schultern.
»Man könnte fast schon sagen, als ein Eichendruide ist es geradezu deine
Pflicht,
das Amt anzunehmen, wenn ich es dir anbiete.«
Die Arroganz, mir zu sagen, was meine
Pflicht
ist! Ha!
Derrien spürte seinen Zorn von neuem aufwallen. »Ich
bin
bereits Anführer«, erklärte er. »Ihr wisst so gut wie ich, dass ich mit meinen
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