Schattenkrieg
Sie meinte es auch so.
Er grinste kurz, deutete einen Salut an und ließ sie alleine. Nachdenklich blickte sie dem Mann hinterher. Die Kompanie konnte nicht so schlecht sein, wenn sie einen solchen Kompaniefeldwebel hatte. Zumindest hoffte sie das.
Der Raum war so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte. Ihre Dusche würde sie wohl auf morgen verschieben müssen. Dass das Licht nicht funktionierte, überraschte sie schon gar nicht mehr. Nachdem sie ihre Taschenlampe aufgestellt hatte, begann sie, ihren Rucksack auszuräumen. Es war erbärmlich wenig – etwas Wäsche, ihr Waschzeug, das Handbuch für Offiziere, ihr ganz persönlicher, privat gekaufter Schlafsack, der leichter und wärmer war als das reguläre Bundeswehrmodell. Das gerahmte Familienfoto stellte sie auf den Tisch. Es war das letzte, das die ganze Familie zeigte – drei Wochen später war ihr Bruder Ralf nach Norwegen gegangen, wo es angeblich Arbeit zu finden gab. Nicht lange danach hatte er sich umgebracht.
Bauer kehrte wieder zurück, einen ganzen Berg an Decken in den Armen. Es waren olivgrüne Bundeswehr-Einheitsdecken, die zwar nach Mottenpulver rochen, aber zumindest trocken waren. Veronika bedankte sich noch einmal bei ihm. Der Feldwebel meinte noch, dass Hagen sie um 10:00 Uhr des nächsten Tages erwarten würde, und verabschiedete sich für die Nacht.
Nachdem sie sich gewaschen hatte, nahm Veronika die Bundeswehr-Hundemarke und das Amulett vom Hals und legte sie neben sich auf den Boden zu ihrem Wecker, den sie auf 6:00 Uhr stellte. Dann legte sie sich, eingehüllt in ihren Schlafsack und zwei Decken, auf das Feldbett. Kurz darauf schlief sie ein.
RONAN
Kêr Bagbeg am Romsdalsfjord, Norwegen
Montag, 02. November 1998
Die Innenwelt
Es war ein schöner Herbsttag, wie man sie nicht viele bekam in Norwegens Fjordlandschaft. Draußen schien die Sonne an einem wolkenlosen Himmel. Der Luftzug durch die offen stehende Tür war angenehm warm und trocken. Die Geister hatten seine Bitten um gutes Wetter für diesen Tag offenbar erhöht. Ronan nickte zufrieden.
Zur Feier des Tages hatte ihm Maela die Knoten aus den Haaren gebürstet und war nun damit beschäftigt, sie zu großen Zöpfen zu flechten. Denn heute war die Heerschau, die große Musterung der Bretonen. Jeder Mann ab vierzehn Jahren, der gesund genug war, eine Waffe in Händen zu halten, war dazu aufgerufen, sich heute auf den Feldern vor der Stadt einzufinden. Alle bretonischen Druiden unter Häuptling Nerin waren da.
Das hieß –
fast
alle. Nur Derrien fehlte. Dabei hatte Ronan alles getan, was in seiner Macht stand, um seinen Bruder in die Stadt zu rufen: Botenreiter suchten im Niemandsland nach seinem Feldlager; das Sichere Haus in der Außenwelt war informiert, falls sich Derrien telefonisch melden sollte; ja, Ronan hatte sogar einen Windgeist auf den Weg geschickt, die Nachricht zu überbringen. Vergebens, wie es schien. Derrien war nicht hier. Vermutlich war der einzige Grund dafür der, dass sein Bruder einfach keine
Lust
dazu hatte.
Ronan war ohnehin nicht gut auf ihn zu sprechen. Derrien hatte ihn vor dem Häuptling ziemlich bloßgestellt. »Einer meiner Spione berichtet davon, dass die Schatten in Bergen stärker werden«,hatte Nerin zu ihm gesagt. »Glaubt du, wir müssen dort einschreiten?« Und Ronan hatte seiner Überzeugung gemäß mit Nein geantwortet, natürlich ohne zu wissen, dass der Häuptling genau den gleichen Bericht von seinem Bruder erhalten hatte wie er selbst. Seine Antwort hatte zu einer geradezu erniedrigenden Unterhaltung mit Nerin geführt.
Der Häuptling war entschlossen, die Schatten in Bergen anzugreifen. Die bittere Ironie daran war, dass
er,
Ronan, als Vertreter Nerins im Fürstenrat auch noch darum werben müssen würde.
Was sein Unglück jedoch
komplett
machte, war der Streit mit seiner Frau. Er hatte Maela natürlich von dem Vorfall mit seinem Bruder und dem Häuptling erzählt. »Dein Bruder ist ein Vagabund«, hatte Maela daraufhin gesagt, »und ich weiß nicht, warum er dir so wichtig ist! Er kommt und geht wie ein Dieb in der Nacht und macht nur Ärger, selbst in seiner Abwesenheit!« Daher herrschte momentan ein frostiges Klima zwischen ihnen. Maela flocht seine Zöpfe nicht mit der Sorgfalt, die sie sonst dabei an den Tag legte, und sprach kein Wort dabei, wodurch Ronan genügend Zeit zum Grübeln hatte.
Sogar Ergad, sein einziger Sohn, den er so abgöttisch liebte, nervte ihn heute. Seit Sonnenaufgang lief er wie eine
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