Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
vergessen wir Schmerzen und Unwohlsein. Freude ist die beste Medizin. Und natürlich Arbeit“, fügt er lachend hinzu. Dr. Hinohara hält nicht viel vom Rentnerdasein. Falls überhaupt, sollte das viel später als mit 65 beginnen. War es früher in Japan üblich, die Angestellten der Unternehmen mit 55 in den Ruhestand zu schicken, verlassen sie heute die Betriebe in der Regel mit 60. Doch erst ab 65 Jahren setzt die Rente ein. Langjährige Angestellte erhalten als Betriebsrente eine hohe Abfindungssumme, damit überbrücken sie die Jahre bis zum Start der regelmäßigen Rentenzahlungen. Ist dies nicht der Fall, stellen ihre Unternehmen sie entweder zu schlechteren Bedingungen wieder ein oder sie müssen sich einen neuen Job suchen.
Vielen Japanern reicht die Rente allein nicht. So überlegen sich einige, ob das Leben auf dem Land nicht eine kostengünstige Alternative sein kann. Gemüseanbau und Fischen sollen Kosten senken helfen und gleichzeitig einen gesunden Lebensstil ermöglichen. Doch viele der alten „Jungbauern“ überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten und betrachten die Landwirtschaft als eine Art Hobby im Extremformat. Die überschwängliche Berichterstattung in den Medien hat zu diesem Missverständnis erheblich beigetragen und wahrscheinlich nicht wenige Rentner in den finanziellen Ruin getrieben. Andere suchen sich lieber in der Stadt eine Anstellung, um über die Runden zu kommen. So findet sich neben den Pensionären, die wohlsituiert ihren Lebensabend genießen, eine große Dunkelziffer ausgelaugter Alte. Sie fegen die Bahnsteige, zupfen in öffentlichen Parks Unkraut oder regeln an Baustellen den Verkehr.
Unser alter Familienfreund Herr Sato ist ein typischer Vertreter der arbeitenden Alten. Er ist 77 Jahre alt. Bis vor ein paar Jahren betrieb er eine kleine Firma für Restaurantbedarf. In den Neunzigerjahren boomte das Geschäft, er kam mit den Aufträgen kaum hinterher. Dann kam die Wirtschaftskrise, und die Gastronomie erwischte die Sparwelle. Das Ehepaar Sato hatte plötzlich nur noch die staatliche Grundrente als regelmäßiges Einkommen. Die alte Mutter, sie verstarb vor zwei Jahren knapp vor ihrem einhundertsten Geburtstag, musste auch noch versorgt werden. Das Geld fehlte an allen Ecken und Kanten, und so arbeitete Herr Sato dreimal die Woche als Nachtwächter in einem Altenheim. Tagsüber half er bei Kleinbetrieben in der Buchhaltung aus. Seine Frau machte sich ständig Sorgen. „Er soll sich doch schonen. Vor sechs Jahren haben sie ihn am Magen operiert, seitdem ist er nicht mehr der Alte.“ Herr Sato aber wiegelte bei unserem Wiedersehen ab: „Der Job im Altenheim ist prima. Ich drehe am späten Abend eine Runde durchs Haus und muss nur einmal nachts aufstehen. Meist ist ja alles ruhig.“ Trotzdem sah er ausgezerrt und grau aus, und wir machten uns ernsthaft Sorgen, wie lange das noch gut gehen würde.
Ein paar Monate später kommt ein Anruf von Frau Sato, sie hat gute Nachrichten. Das Ehepaar wohne nun bei der Tochter, ihr Mann arbeite endlich nicht mehr nachts und es gehe ihm deutlich besser. Die Büroarbeit am Tag läuft allerdings weiter wie bisher. Wie in Japan üblich sprechen wir nicht offen über ihre schwierige finanzielle Situation, wir hangeln uns von Andeutung zu Andeutung und ich kann nur erahnen, dass die Situation nun zumindest ein wenig besser ist.
Das Ziel vieler älterer Japaner: so lange wie möglich unabhängig zu sein, auch von den eigenen Kindern. Manchmal nimmt das allerdings extreme Formen an. So finden sich hier und dort in riesigen Farmhäusern abgelegener Dörfer einsame Alte, die partout nicht von der Heimat getrennt werden wollen. Die Nachbarn kümmern sich um sie, bis sie meist in einem Krankenhaus landen und dort ihre letzte Zeit verbringen. In den Wohnsilos der Großstädte stirbt hin und wieder ein alter Mensch unbemerkt von seiner Umgebung. Fast immer handelt es sich dabei um männliche „Scheidungsopfer“. Die Scheidungsrate ist in Japan nicht nur während der ersten zwei Jahre einer Ehe besonders hoch, sie erfährt in den Anfangsjahren des Rentnerlebens eine zweite Spitze. Die Kinder, die die kriselnde Ehe bislang zusammengehalten haben, sind aus dem Haus, und auf dem Sofa sitzt auf einmal ein Ehemann, der nichts mit sich anzufangen weiß. Sein Freundeskreis ist mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben zusammengebrochen, seine Frau verkehrt in einem ihm unzugänglichen Zirkel älterer Damen. Wie nasses Laub, so die Bezeichnung dieser
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