Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
des Schlafzimmers wackelt und nebenan klirren die Gläser im Schrank. Mit einem Schlag bin ich hellwach und kann nur eins denken: Erdbeben! Hektisch suche ich den Lichtschalter, schon klingen die unheimlichen Geräusche ab und das Haus schaukelt sich sanft aus. Die Stahlkonstruktion hört auf zu ächzen, langsam beruhigt sich mein Puls. Kein Kind schreit angstvoll auf, der Goldfisch wurde nicht aus seinem Aquarium gespült und die Wohnungseinrichtung steht noch. Wieder mal Glück gehabt, denke ich dankbar und sinke zurück ins Kissen.
Nur Narren und unsensible Ausländer berichten begeistert über erste Erfahrungen mit Erdbeben, Japaner hingegen haben sofort die Schreckensbilder von 1995 aus Kobe im Kopf. Nach jeder stärkeren Erschütterung überfliegen sie in Gedanken ihre Lebensmittelvorräte und mögliche Fluchtwege. Das Inselreich wackelt ständig, im Jahr mehr als 7 000 Mal. Der Mensch nimmt jedoch nur jede fünfte Erdbewegung bewusst wahr. Das können leichte Stöße sein, die allgemein nur mit „Oh, hat es eben gewackelt?“ kommentiert werden bis hin zu den Monsterbeben, die dem Land immer wieder Zerstörung und Leid bringen. Die ältesten japanischen Beschreibungen eines Bebens stammen aus dem achten Jahrhundert. Seitdem verging kein Jahrhundert, in dem Japan nicht vom „Tobenden Drachen des Erdreichs“ heimgesucht wurde. In der Edo-Zeit stellten die Menschen sich einen gewaltigen Wels vor, der in tieferen Schlammschichten lebte und mit heftigen Schwanzschlägen Hab und Gut zum Einsturz brachte. Noch 1854 und 1855, als mehrere besonders heftige Beben großflächig die Pazifikregion zerstörten, hielt man an den alten Vorstellungen fest. Heute geht man davon aus, dass diese Kette von Naturkatastrophen wesentlich zum Sturz des Tokugawa-Shogunats beitrug. Ein Fabelwesen ebnete also indirekt der Modernisierung Japans den Weg.
Als 1923 das sogenannte Kanto-Beben zuschlug und die Hafenstadt Yokohama sowie große Teile Tokyos zerstörte, glaubten moderne Japaner schon nicht mehr an die alten Mythen. Damals starben an die 140 000 Menschen, ein aufziehender Taifun unterband zwei Tage jegliche Versuche, den tosenden Feuern Herr zu werden. In unzähligen Haushalten brannte bereits das Herdfeuer fürs Mittagessen, als die gewaltigen Erdstöße einsetzten. Die alten Viertel mit ihren Holzbauten verschwanden damals ebenso wie die schicken Backsteingebäude der Moderne. Einzig Konstruktionen aus Stahlbeton hielten den Naturgewalten an jenem 1. September 1923 stand. Über die Hälfte der japanischen Volkswirtschaft wurde mit einem Schlag zerstört. Heute weiß man, dass dies einer der Auslöser für die Finanzkrise von 1927 war.
Gegenwärtig wartet Japan angespannt auf die Wiederholung dieser Katastrophe. Glaubt man der Statistik, wird die Kanto-Region um Tokyo alle 60 Jahre von einem Monsterbeben getroffen. Die Metropole liegt genau auf der Schnittstelle dreier tektonischer Erdplatten, die aufgebaute Spannung durch die Plattenverschiebungen sollte sich rein rechnerisch schon längst in einem gewaltigen Beben gelöst haben. „The Big One“, welches die japanische Hauptstadt womöglich wie der Film-Godzilla in seinen besten Zeiten zerschlagen wird, ist also seit den Achtzigerjahren überfällig.
Unschön aber wahr: Tokyo gilt weltweit als das Erdbebengebiet mit höchster Risikostufe. Bei einer Naturkatastrophe würde es extreme Verluste erleiden. Und so geistern die stets gleichen Fragen immer wieder durch Talkshows und parlamentarische Ausschüsse: Wann wird es zuschlagen? Und, ist die Region genügend darauf vorbereitet? Große Sorge bereiten die Evakuierung und der Schutz der Bevölkerung vor Feuersbrünsten trotz der zahlreichen Freiflächen wie Parkanlagen, die aus der Nachkriegszeit stammen. So dienen in Tokyo zusätzlich das zentrale Eisenbahndepot oder die Rollfelder des Stadtflughafens Haneda als Sammelstellen im Katastrophenfall.
Die Architektur konzentriert sich heute beim Baumaterial vornehmlich auf Stahlbeton, er gilt als besonders sicher. Doch reichen die Einschränkung des Baumaterials und die Ausweisung zahlreicher Sammelstellen im Ernstfall aus? Schon meine erste Fahrt über die hohen Trassen der Stadtautobahnen genügte mir, um die Verletzlichkeit Tokyos zu begreifen. Kaum sitze ich auf meinem Platz, kann ich nur noch an düstere Weltuntergangsszenarien denken. Während der Highway-Bus flott durch die Schluchten der Bürotürme kurvt, schaue ich unbekannten Angestellten von oben auf ihre
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