Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Titel: Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Liew
Vom Netzwerk:
Schreibtische und warte angespannt darauf, dass diese Fahrt ein Ende nimmt. Auch der größte Optimist muss einfach beim Anblick dieser verschlungenen, beinahe krakenartigen Städteplanung von den gängigen Untergangstheorien überzeugt sein!
    Immerhin finden meine Ängste um Tokyo auf höchster Ebene Bestätigung. Im Fall der Fälle soll Japan nicht ohne Führung sein und so überlegt man seit Jahren, ob Parlament und Ministerien nicht an einen anderen, weniger risikobehafteten Ort umziehen sollen. Tokyo wurde niemals offiziell zur japanischen Hauptstadt ausgerufen. Als Kaiser Meiji seinerzeit dem ehrwürdigen Kyoto den Rücken kehrte und ins moderne Edo zog, galt die Stadt damit automatisch als Regierungssitz und Hauptstadt des Landes. Rechtlich wäre ein zweiter Regierungssitz daher kein Problem. Diskutierte man vor ein paar Jahren noch einen Umzug in den Norden Japans, streiten sich nun die Präfekturen Osaka und Hyogo darum, ob nicht das Gelände des Flughafens von Itami (Osaka) ein idealer Standort für eine Art Ersatzregierung wäre. Der günstig gelegene, aber veraltete Flughafen soll ohnehin geschlossen werden, als Regierungssitz fände er eine neue Verwendung. Die tatsächliche Verlegung soll in 20 oder gar 30 Jahren abgeschlossen sein, so genau weiß das eigentlich niemand. Wie das Zelluloidmonster Godzilla scheint eine vollständige Zerstörung der Metropole so irreal, dass seine Bewohner diesen gruseligen Gedanken immer wieder entschieden beiseiteschieben. Also führen die Menschen ihr Dasein in gewohnten Bahnen und ignorieren die Gefahr so gut es eben geht. Dabei könnte der Einzelne weit mehr tun, um die allgemeine Sicherheit zu erhöhen. So erschreckt mich zusätzlich die Sorglosigkeit vieler Anwohner, wie sie Fluchttreppen und Notausgänge mit Getränkekisten und Altpapier zustellen. Ein gewöhnlicher Großbrand genügt und die vollgestopften Hochhäuser – ob nun privat oder kommerziell als Bar oder Büro genutzt – werden zur Todesfalle. Trotz hoher Strafen ist es den Leuten in diesem Land ohne Kellerräume anscheinend nicht auszutreiben, ihre Treppenhäuser als Lager zu nutzen.
    Einmal im Jahr kommt jedoch niemand um Appell und Katastrophenübung herum. Am 1. September, dem Jahrestag des Erdbebens von Kanto, übt das ganze Land den Ernstfall. Im Zoo probt man den Ausbruch der Raubkatzen, in der Firma holt man den Helm unterm Schreibtisch hervor und in der Schule wird den kleinen Japanern das richtige Verhalten in Theorie und Praxis beigebracht. So auch in der Schule unserer Kinder. Den Auftakt bildet immer ein Film, der betont realistisch den Zusammenbruch eines Klassenzimmers zeigt und bei unserem Ältesten regelmäßig für Albträume sorgte.
    Seine Lehrerin, die kleine Yayoi-sensei, hatte keinerlei pädagogische Bedenken, die Gefahren drastisch zu beschreiben. „Schön die Gesichter vom Fenster abwenden, ihr müsst euch vor fliegendem Glas schützen! Das zerschneidet euch das Gesicht und dann habt ihr für immer Narben! Setzt eure Schutzhauben auf und bleibt unter den Tischen, bis das Beben abklingt!“
    Sie scheucht die Kinder unter ihre kleinen Tische, als die Sirene aufheult. Die Schutzhauben der Kinder sind an zwei Seiten zusammengenähte wattierte Stoffquadrate, die den Rest des Jahres als Stuhlkissen dienen. Verkündet die Lautsprecherstimme das Ende des Bebens, marschieren alle Schüler in geordneten Zweierreihen auf den Hof, um dort auf ihre Eltern zu warten. Zuvor schärfte Yayoi-sensei ihnen noch ein, dass sie unbesorgt mit ihren Hausschuhen nach draußen laufen dürfen. An gewöhnlichen Tagen wäre das ein unverzeihlicher Fauxpas. „Kümmert euch nicht ums Schuhewechseln! Tempo, Tempo, die Schule stürzt ein!“
    Draußen auf dem großen heißen Sandplatz wartet schon der Direktor und beendet die Übung mit einer langen Rede, bis endlich die ersten Mütter eintreffen und ihre Kinder abholen. Eine Vertretung dürfen sie nicht schicken, denn im Notfall geht das auch nicht, es dürfen nur registrierte Personen die Kinder mitnehmen. Bei der Einschulung der kleinen Japaner werden daher nicht nur die Telefonnummern der Erziehungsberechtigten hinterlegt, es muss noch eine weitere Kontaktperson in Schulnähe, eine Kontaktperson außerhalb der Gemeinde und eine vierte Person außerhalb der Präfektur angegeben werden. Als letzte Kontaktadresse steht auf unserer Liste die Deutsche Botschaft, damit sie Angehörige daheim informieren kann. Das Ausmaß der Zerstörung kann niemand

Weitere Kostenlose Bücher