Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
vorhersehen, daher werden die Listen in doppelter Ausfertigung an verschiedenen Orten hinterlegt. Mit einem mulmigen Gefühl, ähnlich wie vor einer Operation, füllten wir damals die Papiere aus. Die Formulare sind sinnvoll, aber an ihren Zweck wollten wir eigentlich gar nicht erinnert werden. Nur das Wissen, dass die Kinder im schlimmsten Fall zu Menschen unserer Wahl kämen, beruhigt uns ein wenig.
Ein Tag nach der Fluchtübung kommt die Feuerwehr zur Schule und baut ein Zelt auf.
„Da drin war ganz viel Rauch, Mama“, erzählt mein Sohn am Nachmittag ganz aufgeregt. „Das hat aber so gut nach Vanille gerochen, dass wir gar nicht mehr herauskommen wollten. Der Feuerwehrmann hat uns dann rausgeholt.“ Die Kinder sollten üben, bei Rauch dicht am Boden Richtung Ausgang zu krabbeln, aber der Duft war zu verführerisch! Der Erdbebensimulator fand hingegen nicht so viel Anklang. Nur wenige Wochen zuvor gab es ein Beben mit der Stärke Fünf und die Kinder hatten keine Lust, das nochmals durchzuspielen. Doch Yayoi-sensei duldete als gute Lehrerin keine Ausreden, und so mussten alle Schüler in den umgebauten Lastwagen der Feuerwehr und versuchen, so lange wie möglich auf den Füßen zu bleiben.
Nicht nur Schulen kümmern sich intensiv um das korrekte Verhalten bei Erdbeben. Auch die Nachbarschaftsvereinigungen der Gemeinden beteiligen sich an Aufklärung und Sicherheit. Jeder Bürger ist automatisch Mitglied in der Vereinigung seines Wohnviertels. Nachrichten zu Schreinfesten, zur Müllabfuhr und zu den vielen kleinen Dingen des Alltags werden abgezeichnet von Haustür zu Haustür weitergereicht. So kennt man seine Nachbarn genau, weiß, wer wann nicht anwesend ist. Natürlich ist das oftmals lästig und in der Privatsphäre einengend, rettet aber bei Naturkatastrophen immer wieder Menschenleben. So wurden nur zwei Prozent aller Verschütteten in Kobe von Rettungsmannschaften befreit, das Gros verdankt sein Leben den Nachbarn und der Familie.
Ein ganz wichtiger Faktor für die persönliche Sicherheit ist die Art und Weise der Möblierung. Typische Elemente der japanischen Wohnkultur haben in der Reduzierung von Gefahrenquellen ihren Ursprung: Wandschränke mit papierenen Schiebetüren können beim Umfallen keinen Menschen erschlagen. Traditionell niedrige Geschirrschränke haben ebenfalls Schiebetüren und können so nicht aufspringen und Teller und Tassen in Geschosse verwandeln. Die für Japan typischen Holzhäuser sind so konstruiert, dass sie die Schwingungen des Bodens absorbieren und die Zerstörung auf ein Minimum reduzieren. Ihre Hauptpfeiler ruhen auf großen Steinen, auf denen das Haus während eines Bebens bis zu einem gewissen Grad gleiten kann. Die Stahlkonstruktionen der modernen Hochhäuser sind mit tiefen Betonpfählen in der Erde verankert und lassen extreme Schwingungen zu, aber vollkommene Sicherheit können auch sie nicht bieten.
Immer wieder erschüttern zudem Skandale das Baugewerbe. Das trifft besonders den öffentlichen Sektor, in dem Baufirmen aus Kostengründen gewaltig an der Umsetzung der Sicherheitsvorschriften sparen. Letztendlich müssen betroffene Gebäude wieder abgerissen werden, was natürlich nicht gerade Vertrauen in der Bevölkerung schafft. Privathäuser können erdbebensicher nachgerüstet werden, aber die Kosten sind hoch und das Interesse ist daher gering. Die große Mehrheit der Immobilienkäufer setzt lieber auf das eigene Glück.
Das hatten die Bewohner von Kobe und Awaji auch getan, bis ihr Glück sie am frühen Morgen des 17. Januars 1995 verließ. Die Gegend um die alte Hafenstadt im Süden von Honshu, der Hauptinsel Japans, galt im Gegensatz zur Kanto-Region als nicht erdbebengefährdet, entsprechend sorglos waren die Behörden im Umgang mit Katastrophenplänen und Vorbereitungen für den Ernstfall. Als die Erde um 5:46 Uhr zu wackeln begann, schliefen die meisten Menschen noch. Hätte sich das Beben nur wenig später während des morgendlichen Berufsverkehrs ereignet, wären weit mehr als 6 000 Tote zu beklagen. Kobe ist eine Gegend, die im Herbst häufig von schweren Taifunen heimgesucht wird, entsprechend waren viele der alten Holzhäuser, der besondere Stolz Kobes, mit schweren Dachziegeln gedeckt. Eine sinnvolle Sache, um das Haus bei Stürmen zu schützen, aber bei Erdbeben eine tödliche Entscheidung: Die schweren Dächer stürzten unter den heftigen Schwingungen beinahe ausnahmslos ein. Brände, die anschließend durch die engen Gassen der Altstadt
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