Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
mehr an. Draußen machte sich die Mannschaft bereit zum Angriff.
»Kommen Sie mit«, forderte Fokke den Neuling auf. Der folgte ihm hinaus, und sie gingen zum Achterdeck. Fokke stellte sich an die Reling, mit dem Rücken zu ihr, und wies auf sein Schiff. »Was sehen Sie hier?«
»Ihr Schiff, Kapitän.«
»Ganz richtig. Mein Schiff. Die Lieke gehört mir, jeder Nagel in ihren Planken. Sie trägt den Namen meiner Frau, und die Galionsfigur zeigt sie selbst in jungen Jahren, damals, als ich sie geheiratet habe.«
»Sie ist wunderschön.«
»Oh ja. Eine bezaubernde kleine Frau. Und das Schiff ist mein, denn ich habe es bezahlt, bis auf den letzten Gulden. Es ist wie mit mir verwachsen in all den Jahren, ich kenne seinen Atem, jedes leise Knacken des Holzes, ich weiß, wo es sich besonders wohlfühlt und wie es auf jeden Wind reagiert. Es ist meine wahre und einzige Heimat. Ich bin Herrscher über diese paar Fuß Planken, und alles, was darauf ist, Ding oder Mensch, gehört mir. Ihr seid hier durch meine Gnade. Und ihr werdet gehen, wenn ihr meiner Gnade nicht mehr würdig seid.«
Und damit packte er den jungen Offizier, den er um halbe Haupteslänge überragte und dem er an Kräften weit überlegen war, und warf ihn über die Reling ins Wasser.
Niemand beachtete die Hilferufe des jungen Mannes, bis die Fluten ihn verschlangen.
Die Galeone nahm Kurs auf den Engländer, und als sie nah genug heran waren, sah Fokke, dass er völlig ahnungslos war. Geschlossen waren die Luken, und auch sonst schien alles still und friedlich. An Deck winkten sie ihnen sogar. »Längsseits gehen!«, befahl er. »Und Feuer!« Alle fünfunddreißig Kanonen schickten ihre tödliche Fracht gesammelt auf das englische Schiff. Während sie nachluden und während drüben bereits das halbe Schiff von den Einschlägen zerrissen wurde und der Hauptmast zusammenstürzte und die Segel mit sich riss, halste die Lieke, und ihre fünfunddreißig Geschosse auf der anderen Seite schlugen vernichtend beim Engländer ein, dessen aufgerissener Rumpf sich im Nu mit Wasser füllte.
Ohne dass ein einziger Abwehrschuss erfolgte, ging der Engländer mit Mann und Maus und Barend Fokkes Frau unter. Der Kapitän hatte das in vollem Bewusstsein getan und Lieke dafür geopfert, niemals Schwäche zu zeigen.
Unbewegt, für diesen Moment in seine volle Montur gekleidet, sah er zu, wie das Schiff drüben förmlich zerrissen wurde von seinem Kugelhagel. Um ganz sicherzugehen, schickte er nochmals einige Kanonenkugeln hinterher, die den verbliebenen Rest vernichteten, bis nur noch Trümmer auf den Wellen trieben.
Barend Fokke erfuhr exakt den Moment, als seine Frau im Wasser ertrank und starb.
Denn urplötzlich zog sich der Himmel zu, geballte schwarze Wolkentürme rasten heran, und ein kreisender Wirbel bildete sich direkt über der Galeone. Ein gewaltiger Blitz, begleitet von laut krachendem Donner, fuhr herab und traf den Kapitän.
Die Wucht des Aufschlags sprengte die Buchstaben vom Heck des Schiffes. Sie fielen brennend ins Wasser, sodass die Galeone fortan ohne Namen war, und die heiß sengenden Strahlen färbten alles schwarz, selbst die Segel.
Der Blitz entriss dem Kapitän die Seele und vernichtete sie, tötete ihn aber nicht, denn gleichzeitig traf ihn der Fluch zur ewigen Verdammnis.
Und der Fluch traf auch seine Mannschaft bis auf den letzten Mann, die sich an dieser schändlichen Tat beteiligt hatte; sie behielten ihre Seelen, wurden aber zu einem schauerlichen Scheinleben verurteilt, das ihnen keine Gnade des Todes gewährte, ihnen aber alle Freuden nahm. Sie wurden dazu verurteilt, das Schiff niemals verlassen zu dürfen, auch nicht aus eigenem Antrieb durch einen Sprung ins Meer. Das Schiff wurde ebenfalls verurteilt, niemals mehr einen Hafen anlaufen zu dürfen. Und der Kapitän wurde zu untotem Dasein verdammt, auf ewig an sein Schiff und den Fluch gebunden, um zu büßen für seine grausame Tat.
In seinem Zorn, und um endgültig zu besiegeln, was nicht mehr zu ändern war, sägte der Kapitän eigenhändig die Galionsfigur ab und verbrannte sie. Nichts mehr sollte von Lieke bleiben. Da die Galeone nun namenlos war, durfte sie auch die Patronin nicht mehr tragen, damit sich niemand mehr erinnerte.
Fokkes Stimme verhallte. Laura hatte fasziniert zugehört und fühlte sich, als hätte sie mehrere Stunden im Kino verbracht.
Und ... was jetzt? Sie sah sich um. Sie fühlte.
Nichts tat sich, nichts veränderte sich. Alles blieb so, wie es
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