Schattenlord 13 – Der Dolch des Asen
glaube nicht einmal, dass es in der Mitte des Steinbergs so etwas wie eine Lücke gibt.«
»Weil du blind bist für alles, was mit den Augen nicht zu sehen ist.« Angela schüttelte den Kopf. »Du bist ein Versager.« Sie trat nahe an einen mannsgroßen Felsbrocken heran, ohne ihn zu berühren, drehte sich einmal im Kreis und sagte dann bestimmt: »Hier ist es. Die schwächste Stelle. Dies ist der Zugang.«
»Der Zugang zu was? Was redest du da bloß?«
»Dahinter befindet sich der Abstieg«, sagte Angela gedankenverloren. »Ich fühle ihre Gegenwart. Hunderttausende, womöglich Millionen sind im Laufe der Geschichte Innistìrs hier hochgekommen und dann wieder hinabgestiegen. Sie haben ihre Spuren im Stein hinterlassen. Nicht nur den Geruch, sondern auch ihre ... Hingabe. Ihre Leidenschaft. Es fühlt sich so unglaublich gut an.«
Wieder drohte Angela in diesem Gefühl ganz besonderer Leidenschaft zu versinken. Sie keuchte, sie zitterte, ihre Augen wurden glasig.
»Ich klettere hoch«, sagte Felix. Er betrachtete den Stein, der einem Menhir ähnelte. Die Felsbrocken links und rechts schlossen dicht ab. Doch sie waren ganz anders. Er verstand nicht viel von Geologie; doch er war sich fast sicher, dass der Menhir aus der Art schlug. Seine Struktur wirkte gröber. Das Grau besaß eine andere Tönung als das seiner Nachbarn.
Angela wurde ungeduldig. Sie war kaum noch zu bremsen, und wäre sie nicht verletzt gewesen, hätte sie wohl längst selbst den Versuch unternommen, den Menhir zu besteigen.
Felix klammerte sich an kleinen Vorsprüngen fest und trat dann mit den Füßen auf winzige hervorstehende Stellen im Gestein. Er hatte in seiner Jugend ein paar Erfahrungen im Klettern gesammelt. Doch das war zu einer Zeit gewesen, da er zwanzig Kilogramm Fett weniger an den Hüften hängen gehabt und er noch Sport betrieben hatte.
Irgendwie schaffte er es, an die Spitze des etwa sieben Meter hohen und zwei Meter breiten Menhirs zu gelangen. Felix klammerte sich fest, atmete tief durch und blickte sich dann um. Hinter dem Riesenstein waren kleinere Felsen übereinandergetürmt, als hätten Riesen sie als Murmeln benutzt. In den Schatten bewegte sich etwas; vielleicht Eidechsen oder andere Kriechtiere, die dieses Steinlabyrinth als ihre Heimat auserkoren hatten.
»Und?«, fragte Angela. »Was siehst du?«
»Nichts«, antwortete er wahrheitsgemäß. Er stockte. Sein Blick blieb an etwas hängen. An einem Schatten, der sich bewegte.
Felix zog sich zurück und lugte über die Oberkante des Menhirs ins Innere des steinernen Durcheinanders. Er verhielt sich so ruhig wie möglich und beobachtete. Sah zu, wie sich der Schatten entfaltete und zu einer Figur, einem Wesen wurde, dessen Körper von strubbeligen Haarbüscheln bedeckt war. Was er hier sah, war unzweifelhaft ein wolfsähnlicher Gog/Magog, der noch dazu nackt war. Er bewegte sich mit selten gesehener Gewandtheit zwischen den Steinen, tauchte da und dort in Lücken ein, um gleich darauf wieder zum Vorschein zu kommen, mit handtellergroßen Käfern, die er flugs in einen Sack stopfte. Der Sack bewegte sich. Darin mussten sich Dutzende der Tierchen befinden!
Der Wolfsähnliche hielt mit einem Mal inne. Er reckte sein Gesicht hoch und witterte mit seiner breiten Nase in den Nachmittagshimmel.
Erschrocken zuckte Felix zurück. War er entdeckt worden, hatten die feinen Sinne des Gog/Magog angeschlagen? Er bedeutete Angela, ja kein Wort zu sagen; zu seiner Überraschung gehorchte seine Frau.
Er hielt den Atem an und wartete, so lange, bis er es nicht mehr aushielt und er erneut, ganz vorsichtig, den Blick über den Menhir hinweg wagte.
Der andere hatte mittlerweile seinen Standort gewechselt. Er suchte nahe einem winzigen Tümpel, der sich auf einem breiten, flachen Stein gebildet hatte, nach weiteren Käfern. Er hatte also nichts bemerkt! Erleichtert schnaufte Felix durch und zog sich langsam, Schritt für Schritt, auf den Erdboden zurück.
»Wir müssen so rasch wie möglich von hier verschwinden«, sagte er leise. »Ein Gog/Magog klettert im Inneren herum. Wo einer ist, finden sich auch andere.«
Angela erwiderte nichts. Sie starrte ins Leere. Sah dann hoch zu den Felsen. Zum Feind, der bloß wenige Meter neben ihnen seiner seltsamen Arbeit nachging – und schrie dann. Laut und schrill. So, dass sich ihr Ruf an den Felsen brach und mehrfach wiedergegeben wurde. Um ihren Mund bildete sich Raureif; sie spuckte Eiskristalle, die langsam zu Boden sanken und dort ins
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