Schattenlord 4 - Der Fluch des Seelenfängers
wurden. Ihre Seelen waren also vermutlich sicher. Aber das bedeutete nicht, dass man nicht auf andere Weise jede Menge Unangenehmes mit ihnen anstellen konnte ...
Die Tür wurde nicht verriegelt - wohin sollten sie denn fliehen? In allen Nächten vorher waren die Geschwister ohnehin viel zu müde gewesen, um auf dumme Gedanken zu kommen. Aber was heute geschehen war, hatte sie aufgerüttelt, sie hätten jetzt nicht schlafen können.
Vorsichtig verließen sie ihre Kammer und schlichen nach oben an Deck. Dabei verharrten sie immer wieder ängstlich und lauschten auf knarrendes Holz.
Die Luft hier oben war kühl, aber gut auszuhalten. Mit Ausnahme des Rudergängers, der am Achtersteven am Ruder stand und das Schiff auf Kurs hielt, war niemand zu sehen; selbst der Ausguck war leer. Wer sollte sich dem Schiff auch in den Weg stellen? Das Wetter war ruhig, der Wind stand kurz vor der Flaute. Dennoch bewegten sich die Segel knarzend und blähten sich auf, als würden sie von einer eigenen Brise vorangetrieben.
Die Galeone wiegte sich leicht auf ihrem Ritt über die Wolken, unbeeindruckt von den sich aufblähenden Wolkenbergen, die ab und zu an den Seiten emporwallten. In welche Himmelsrichtung es ging, war unmöglich festzustellen und auch nicht, über welchen Landen sie sich befanden. Es gab keinerlei Anhaltspunkt; Andreas' Kompass wäre vielleicht von Nutzen gewesen, da er stets auf das Zentrum des Reiches, den Palast Morgenröte, zeigte.
Der Ruderstand befand sich über dem Zugang zur Kapitänskajüte, hatte jedoch wegen der vollen Takelung kaum einen freien Blick nach unten. Und der Mann dort oben döste in der Eintönigkeit wahrscheinlich vor sich hin.
Niemand hielt Wache, auch nicht vor der Kapitänskajüte. Die Geschwister bewegten sich langsam und vorsichtig von Deckung zu Deckung. Licht gab es so gut wie keines, nur ein schwaches Glimmen der Wolken und eine einsame Lampe oben beim Ruderstand.
Sandra hielt plötzlich inne, griff nach Lucas Arm, und er spürte, wie sie erschauerte.
»Was ist?«, wisperte er erschrocken.
Sandras Hand war eiskalt, ihre Finger gruben sich in seine Haut. »Spürst du es nicht?«, fragte sie kaum hörbar.
Luca musste verneinen; er wusste nicht, wovon sie redete.
»Aber es ist hier ... überall ... etwas sehr Kaltes. Es dringt aus allen Ritzen ...«
Lucas Nackenhaare stellten sich auf. Er sah um sich, und dann ... bemerkte er es auch.
Es war nicht greifbar, und doch floss es um ihn herum, berührte ihn, streifte ihn, und er war schlagartig starr vor Angst. So kalt, so ... unbestimmbar, als wäre es der Atem des Schiffes selbst, doch da war mehr, viel mehr ...
Und dann hörte er das Stöhnen. Und Seufzen. Tiefste Verzweiflung und nicht nur einfach in der Luft, es schien geradezu aus dem Holz zu sickern.
Wenn Luca dazu in der Lage gewesen wäre, wäre er jetzt aufgesprungen und panisch zu seinem Lager gerannt, und dann hätte er nie wieder einen Ausflug in die Nacht unternommen. Doch er konnte nicht einmal mit einem Muskel zucken.
Etwas litt hier unglaublich, erfüllte alles. Luca begriff, dass es immer da war, unterschwellig hatte er es die ganze Zeit schon gefühlt. Er hatte seine Bedrücktheit auf seine Lage geschoben, aber in Wirklichkeit war es vor allem dieses Leid gewesen, das auf sein Gemüt eingewirkt und ihm vor allem die Energie, den Antrieb genommen hatte. Tagsüber war es wegen der Betriebsamkeit nicht zu bemerken, aber nachts, wenn alles schlief, fand es Gehör.
Was tut dieses Schiff allen an, die auf ihm leben?, dachte Luca. Es ist die treibende Kraft, alles Magie, ich kann es spüren, und ... es muss ein schrecklicher Fluch sein, der über allem liegt. Wie wollen wir dagegen bestehen?
Ihm blieb das Herz fast stehen, als er plötzlich einen festen Druck spürte - dabei war es nur Sandra, die seinen Arm packte und leicht schüttelte. »Wir können hier nicht bleiben!«, raunte sie. »Es wird immer schlimmer. Beeilen wir uns.«
Nun erklärte sich, warum niemand nachts auf war. Wer wollte sich das freiwillig antun?
Hand in Hand, sich gegenseitig stützend, wagten sie sich weiter voran.
Schließlich erreichten sie den Zugang zum Kapitänsdeck, nicht mehr als eine einfache Holztür mit einem vergitterten Fenster, dessen Schlitze leicht geöffnet waren. Schwacher Lichtschein drang von innen heraus.
Luca war zu klein, doch Sandra konnte hindurchschauen. »Was siehst du?«, drängte er, während er neben ihr auf und ab hüpfte. »Sag schon!«
»Nur einen
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