Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
die Schmerzen ließen ihn fast den Verstand verlieren.
Haha, sagte der Dämon.
Sein Körper war zerschunden und erschöpft. Sein Herz schlug unregelmäßig, sein Kopf schien zu zerspringen. Andreas atmete auf, als er wieder über ihm schwebte.
Hör auf!, schrie sein Körper. Du bringst mich um.
Nein, dachte Andreas. Ich sorge dafür, dass wir niemanden mehr umbringen.
Hatte er wirklich geglaubt, es würde gut gehen? Wie hatte er glauben können, dass es ihm gelingen würde, für den Rest seines Lebens alle zu täuschen? Seine Frau hatte erkannt, was für ein Versager er war, und sich von ihm getrennt, bevor er sie mit in den Abgrund reißen konnte, in dem früher oder später alle landeten, die sich mit ihm abgaben.
Hättest du nur auf mich gehört, flüsterte der Dämon, dann wärest du der Welt erspart geblieben.
»Du hast deine Mutter nicht umgebracht«, sagte Doktor Gephardt. »Und du hast deinem Vater nichts angetan. Dein Dämon, wie du ihn nennst, hat dich angelogen, so, wie du mich angelogen hast, als du sagtest, du hörst keine Stimmen mehr.«
Andreas blinzelte. Die Schmerzen waren ein rasch verwehender Albtraum, die Welt der Klinik realer als die, in der sein Körper auf einen magischen Nebel zuwankte.
»Ich höre keine Stimmen mehr.«
»Ich rede von letztem Jahr.«
Andreas grinste. »Ja, das war gelogen. Ich wollte das alte Medikament nicht mehr nehmen, weil ich davon so müde wurde, aber das neue ist toll. Ich kann mich konzentrieren und alles machen, was normale Menschen tun. Ich fühle mich gesund.«
Gephardt drehte seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern. Seit Andreas seinem Vater verboten hatte, ihn zu besuchen, verstand er sich viel besser mit dem Psychiater. Zum ersten Mal hatte er ihn sogar zur Therapiestunde in sein Zimmer eingeladen. Erst eine Woche zuvor hatte man Andreas’ Antrag auf ein Zimmer ohne vergitterte Fenster und elektronisches Schloss an der Tür bewilligt. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in der Klinik konnte er einfach so seine Tür öffnen und schließen, ohne jemanden um Erlaubnis zu bitten. Da Gephardt ihm diese Freiheit ermöglicht hatte, wollte er ihn daran teilhaben lassen.
Der Arzt sah sich in seinem Zimmer um. Andreas hoffte, dass seine Einrichtung normal wirkte. Er wusste nicht, was andere Siebzehnjährige in ihren Zimmern aufbewahrten. Die meisten anderen Patienten in der Klinik waren viel älter als er, und die wenigen Gleichaltrigen blieben meistens nur ein paar Monate.
»Die Fliegerei lässt dich nicht los, oder?«, fragte Gephardt. Mit dem Kinn deutete er auf das Bücherregal. »Sind das alles Spiele?«
»Nein.« Andreas empfand die Frage als beleidigend. »Das sind Simulatoren, manche werden sogar bei Lufthansa zum Pilotentraining benutzt. Und die Lehrbücher hat ein Pfleger für mich gebraucht gekauft. Wenn ich hier rauskomme und meine Ausbildung zum Piloten mache, werde ich mehr wissen als all die anderen Anfänger.«
Als er Gephardts Gesichtsausdruck sah, brach er ab. »Was ist denn? Ich komme doch hier raus, oder?«
»Ja. Wenn die Medikamente weiter so gut anschlagen, werde ich dem Komitee in einem halben Jahr empfehlen, dich zu entlassen. Aber ...« Er legte den Kugelschreiber auf den Tisch und sah Andreas an. »Du bist geisteskrank, und du wirst sehr wahrscheinlich dein Leben lang starke Medikamente benötigen. Keine Fluggesellschaft wird dich zum Piloten ausbilden. Du musst einen anderen Traum finden.«
Gephardt sagte noch mehr, erzählte ihm etwas von Menschen, die Flugzeuge konstruierten oder reparierten, aber Andreas hörte ihm nicht mehr zu. Er stürzte in den Abgrund seiner Seele, dorthin, wo der Dämon an den Gittern seines Gefängnisses rüttelte. Wie in Trance bedankte er sich bei Gephardt für dessen Ehrlichkeit und schloss die Tür hinter ihm. Dann legte er sich auf sein Bett. Stundenlang kämpfte er dort gegen den Dämon. Als er ihn endlich besiegt hatte, war es vier Uhr morgens, und in der Klinik war es still.
Und wenn es niemand je erfährt?, dachte er plötzlich. Ein anderer Mensch könnte Pilot werden, nur ich kann es nicht. Also muss ich aufhören, ich zu sein.
Die Idee war so einfach, so klar, dass sie ihn nicht mehr losließ. Den ganzen nächsten Tag dachte er an nichts anderes, und als es Nacht wurde, zog er die Sporttasche, mit der er vor so vielen Jahren in die Klinik gekommen war, unter seinem Bett hervor und packte seine Sachen. Ein wenig Kleidung und die Pilotenhandbücher, mehr nahm er nicht mit.
Er schlich
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