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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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die Flugsimulatoren zu spielen, die sein Vater ihm schenkte. An diesem Morgen flog er gerade auf Autopilot und in Echtzeit von London-Heathrow nach Newark, New Jersey. Es war eine der am häufigsten geflogenen Transatlantikstrecken, und er wollte sie so gut beherrschen wie ein echter Pilot.
    Sie saßen im Garten der Klinik an einem Tisch, der vom Laub des letzten Herbsts umgeben war. Gephardt lehnte die Behandlung in den speziell dafür mit Kameras ausgestatteten Therapieräumen ab und bevorzugte Orte wie den Klinikgarten, den Wald rund um das Gebäude und gelegentlich sogar das Dach. Die anderen Ärzte mochten ihn nicht, aber seine Erfolge auf dem Gebiet dissoziativer Persönlichkeitsstörungen und jugendlicher Schizophrenie waren beeindruckend, also ließ man ihn gewähren.
    Gephardt schloss die Akte und schob sie über den Tisch. »Willst du dir mal ansehen, was wir von dir halten?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil da Sachen drinstehen, die nicht für mich bestimmt sind.« Gerade mal zwei Minuten sprach er mit Gephardt, und schon nahm die Therapiestunde eine unangenehme Wendung.
    »Du weißt doch, was du getan hast und was mit dir nicht in Ordnung ist. Das ist alles, was da drinsteht.«
    »Ich will es trotzdem nicht lesen.«
    »Gut.« Gephardt legte die Akte neben sich auf einen leeren Stuhl und schlug die Beine übereinander. »Dein Vater besucht dich einmal im Monat, richtig?«
    »Ja.« Dieses Thema behagte Andreas kaum besser als das letzte.
    »Worüber redet ihr, wenn er hier ist?«
    »Dies und das.« Andreas rückte seinen Stuhl zurecht, entfernte ihn ein wenig von Gephardts Knoblauchatem.
    »Zum Beispiel?«
    Zum Beispiel darüber, dass die einzige Frucht seiner Lenden nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, flüsterte der Dämon, und dass er wünschte, du wärest anstelle deiner Mutter bei der Geburt gestorben.
    »Mir fällt nichts ein«, antwortete Andreas zu schnell und zu laut.
    Gephardt musterte ihn aus wässrig blauen Augen. »Redet ihr manchmal über seinen Fuß?«
    Sein Vater hinkte seit dem Tag am Flughafen. Der Polizist hatte sich zwar auf Andreas geworfen, doch im Fallen hatte dieser seinen Arm ausgestreckt und seinem Vater das Messer in den Fuß gerammt. Eine Weile lang hatten die Ärzte befürchtet, sie müssten amputieren, doch nach vier Jahren waren nur das Hinken geblieben und die ständigen Schmerzen, wenn er seinem Vater glauben konnte.
    Kannst du nicht, flüsterte der Dämon.
    Andreas räusperte sich. »Nein, wir reden nie über diesen Tag.«
    »Und über euer Leben vor diesem Tag, redet ihr darüber?«
    »Nein.«
    Gephardt hob die Augenbrauen. »Das müssen kurze Gespräche sein.«
    Er sah Andreas an, schien auf etwas zu warten, was nicht kam, und rieb sich dann das Kinn. »Ich möchte dich bitten, deinem Vater seine Besuche zu verbieten.«
    »Was?«
    »Du bist sechzehn Jahre alt, mit meiner Unterstützung kannst du das durchsetzen. Ich halte es für besser.«
    Er weiß es, flüsterte der Dämon mit der Stimme seines Vaters. Er weiß, was du mir angetan hast.
    »Aber ich nicht.« Andreas sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und auf die Steinplatten schlug. »Er ist mein Vater. Ich will, dass er mich besucht.«
    Gephardt beugte sich vor. »Dein Vater ist die Ursache all deiner Probleme, da bin ich mir sicher. Lies die Akte, lies, was ich über ihn und dich geschrieben habe. Wenn du dann immer noch glaubst, dass dieser Mann dich besuchen sollte, werde ich dir nicht im Weg stehen.« Er stand auf und wandte sich ab. »Bring sie mir bitte ins Büro, wenn du fertig bist.«
    Fast eine Stunde lang umkreiste Andreas den Stuhl mit der Akte wie ein Raubtier, das sich nicht sicher war, ob der Gegner, dem es sich stellen wollte, nicht vielleicht doch zu groß für es war.
    Tue es nicht!, schrie der Dämon, als Andreas schließlich nach der Akte griff, sie sich auf die Knie legte und mit klopfendem Herzen öffnete.
    »Halt die Klappe und lass mich lesen.« Er wusste, dass er diesen Mut nicht noch einmal aufbringen würde.
    Als die Schwestern ihn zum Mittagessen riefen, nahm Andreas die Akte, ging in Gephardts Büro und legte sie ihm auf den Schreibtisch. »Ich will meinen Vater nie Wiedersehen«, sagte er ruhig.
    Ein halbes Jahr später hörte er die Stimme des Dämons zum letzten Mal.

    Schmerz riss ihn durch Zeiten und Welten zurück nach Innistìr. Wankend stand sein Körper auf dem Rand des Kraters. Nur einen kurzen Moment verbrachte Andreas’ Geist in ihm, aber

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