Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
ich ein besserer Spieler wäre, dürfte ich auf die nächsthöhere Ebene ziehen, weil ich der Stadt mehr zurückgeben kann, als ich es jetzt tue. Je höher man in Amarihye lebt, desto wichtiger ist man für die Stadt.«
Laura beugte sich vor. »Und wer lebt dann in dem Turm?«
»In der Flöte, meinst du? Ke-Amarihye natürlich, unsere Herrscherin.«
Zusammen mit Breynu verließen sie das Haus. Nun, da Finn wusste, dass der Turm Flöte genannt wurde, war es ihm ein Rätsel, warum er nicht sofort gesehen hatte, dass das Bauwerk auch genauso aussah. Die Fenster waren untereinander angeordnet wie die Löcher einer Flöte, und ganz oben saß das Mundstück, durch das der Wind blies und die Stadt mit seiner Melodie erfüllte.
Zumindest behauptete Breynu, dass es so wahr.
»Das ist der ewige Kreislauf der Stadt«, sagte er. »Wir unterhalten Ke-Amarihye mit unseren Spielen, Darbietungen und Geschichten, und sie zähmt den Wind, damit er auf der Flöte eine Melodie für uns spielt, die unseren Körper sättigt und unsere Seele beflügelt. Solange Ke-Amarihye glücklich ist, sind wir es auch.«
»Klingt, als würde ziemlich viel von der Laune einer Frau abhängen«, sagte Finn. »Und das funktioniert?«
»Seit Tausenden von Jahren.«
Breynu wirkte so stolz, dass Finn auf weitere Witze verzichtete. Er selbst spürte, wie gut ihm die Melodie tat, auch wenn sie ihn nicht sättigte. Doch sie ließ die Sorgen, die er sich machte, ein wenig kleiner wirken als zuvor und die Hoffnung ein wenig größer und das reichte ihm.
»Wir könnten Ke-Amarihye nach dem Dolch fragen«, sagte Milt, aber Breynu schüttelte sofort den Kopf.
»Bitte fragt einen anderen, solange ihr nicht wisst, was es mit dem Dolch auf sich hat und wie Ke-Amarihye reagieren wird, wenn ihr sie auf ihn ansprecht. Zu viel hängt von ihrer guten Stimmung ab.«
Und so schnell tauchen Risse in der scheinbar perfekten Fassade der Stadt auf, dachte Finn. »Keine Sorge«, sagte er. »Wir werden einen großen Bogen um deine Herrscherin machen. Sag uns einfach, an wen wir uns wenden sollen.«
»So war das nicht gemeint.« Breynu hob die Hände. Die Kristallsplitter trug er in einem Stoffbeutel auf dem Rücken. »Die Herrscherin möchte euch natürlich kennenlernen, nur fragen solltet ihr sie nichts. Um ehrlich zu sein ...« Er zögerte einen Moment, als müsse er erst den Mut aufbringen fortzufahren. »Um ehrlich zu sein, hoffe ich, dass ihr mir die Ehre erweisen werdet, euch ihr vorzustellen. Das würde mir sehr helfen.«
Finn grinste. »Bei deinem Umzug auf die nächste Ebene?«
Breynu hob die Schultern. »Ich kann es zumindest versuchen, oder?«
Sie sprachen sich mit Blicken ab. Laura wirkte zweifelnd. »Uns läuft die Zeit davon«, sagte sie. »Das kann Stunden dauern, und wir werden nichts über den Dolch erfahren.«
Milt nickte. »Wir sollten uns aufteilen. Finn und ich machen uns auf die Suche nach dem Dolch, du bespaßt mit Nidi die Herrscherin. Wir wissen ja, dass Nidi besser erzählen kann als ich.«
Täuschte sich Finn, oder schwang ein wenig Neid in Milts Stimme mit? Er sprach ihn jedoch nicht darauf an, sondern stimmte einfach nur zu.
»So machen wir’s.«
»Ihr erweist mir eine wirklich große Ehre«, sagte Breynu. »Kommt.«
27
Ein
neues Leben
A ndreas’ vergessener Körper kletterte die steile Kraterwand hinauf, aber sein Geist war nicht mehr im Vulkan, nicht einmal mehr in Innistìr. Er war wieder sechzehn Jahre alt. In der Klinik im Taunus, die seit dem missglückten Mordversuch an seinem Vater zu seinem Zuhause geworden war, lobte man ihn für seine Fortschritte.
»Du bist in kurzer Zeit sehr weit gekommen«, sagte Doktor Gephardt. Der Psychiater blätterte die bibeldicke Akte durch, die vor ihm auf dem Gartentisch lag.
Andreas mochte ihn nicht. Gephardt war ein älterer Mann mit schütterem Haar und einem Atem, der immer nach Knoblauch roch. In der Klinik trug er Ledersandalen, die bei jedem Schritt gegen seine nackten Fersen schlugen. Andreas hatte das Geräusch hassen gelernt. Wenn er es morgens auf dem Gang hörte, wusste er, dass ihm eine weitere Therapiestunde mit dem Klinikarzt bevorstand. Dann bat er den Dämon, der letzten Stimme, die in seinem Kopf übrig geblieben war, zu schweigen und ihn nicht zu verraten.
Seit er in der Klinik lebte, war Andreas zu einem noch besseren Lügner geworden. Seine Lügen hatten ihm Privilegien eingebracht. Er durfte einen Computer benutzen, zwar ohne Internet, aber man erlaubte ihm,
Weitere Kostenlose Bücher