Schattenmacht
du das?«, fragte Jamie.
»Ich hab ihn mal durch die Krankenstation reinkommen sehen.«
Die Krankenstation lag direkt an der Mauer. Jeder wusste, dass sie für beide Seiten des Gefängnisses zuständig war. Wenigstens glaubten alle, das zu wissen.
»Er ist der Einzige, der rüber darf«, fuhr Baltimore fort. »Auf der anderen Seite haben sie ihre eigenen Aufseher. Bewaffnete Aufseher. Mit uns haben die nichts zu tun.«
»Wenn du dir die andere Seite ansehen willst, frag einfach Max«, sagte DV grinsend. »Er wird dein Gehirn an einen Computer anschließen, und wenn dich das nächste Mal jemand sieht, wirst du genauso weggetreten sein wie all die anderen.«
Die Mahlzeit war beendet. Die Jungen gaben die Tabletts und Plastikgabeln ab, drehten ihre Hosentaschen nach außen und stellten sich breitbeinig hin, um sich abtasten zu lassen, bevor sie für eine Stunde in ihre Zellen zurückmussten. Als sie den Speiseraum verließen und langsam durch die grelle Sommerhitze gingen, bemerkte Jamie Joe Feather, der am Rand des Sportplatzes stand und ihn beobachtete. Dieser Aufseher hatte ihn seit seiner Ankunft nicht aus den Augen gelassen. Ahnte er etwas? Wenn ja, musste Jamie schnell handeln. Ihm lief die Zeit davon.
Er erinnerte sich daran, was Feather bei seiner Ankunft vor fast einer Woche gesagt hatte. Er hatte seine Tätowierung gesehen und ihn gefragt, ob er einen Bruder hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, woher er das wissen konnte: Er hatte Scott gesehen. Und das bedeutete, dass Scott hier war, in Silent Creek.
Jamie war sich absolut sicher. Es war nur logisch. Silent Creek war das einzige private Gefängnis in Nevada, und es gehörte Nightrise. Alicia zufolge war Nightrise für das Verschwinden von vielen Jungen mit übersinnlichen Fähigkeiten verantwortlich – und ein Hochsicherheitsgefängnis mitten in der Mojave-Wüste war der beste Ort, um sie zu verstecken. Er hatte den Namen Silent Creek in Colton Banes’ Gedanken gelesen. Und was sollte sonst auf der anderen Seite der Mauer sein?
Jamie zog seine Turnschuhe aus (das war Regel 118 oder 119… keine Schuhe in der Zelle) und stellte sie ordentlich auf dem Flur ab. Die anderen Jungen hatten dasselbe getan. Er ging in seine Zelle, und wenige Sekunden später ertönte ein Summen, mit dem die Zellentür automatisch zuglitt. Seine Zelle war weiß gestrichen und fünf mal zehn Schritte groß. Seine Pritsche war eigentlich nur ein hochgezogener Teil des Fußbodens. Auf dem Betonsockel lag eine dünne Plastikmatratze. Auf der anderen Seite stand ein Metallregal, das gleichzeitig als Tisch diente. Beides war fest im Boden verankert. An der Tür war eine Kombination aus Toilette und Waschbecken aus rostfreiem Stahl angebracht. Das war alles. Die Zelle hatte ein breites Fenster, das aber nur wenige Zentimeter hoch war. Gitterstäbe gab es nicht. Aber selbst wenn es Jamie gelang, das Panzerglas einzuschlagen, hätte er niemals durch den schmalen Spalt gepasst.
Die anderen Jungen hatten ihm erzählt, dass die Zellentüren elektronisch verschlossen wurden, und jedes Mal, wenn Jamie in seiner Zelle eingeschlossen war, musste er gegen seine aufsteigende Panik ankämpfen. Alicia wusste, wo er war. Am Ende seiner zweiten Woche würde er sie anrufen dürfen. Sie war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Was, wenn ihr etwas passierte? Dann saß er hier fest als Jeremy Rabb – oder Indianer. Wir lange würde es dauern, bis er durchdrehte und entweder in Einzelhaft gesteckt oder unter Drogen gesetzt wurde?
Aber dazu würde es nicht kommen. Jamie hatte immer noch seine Kraft, und in dieser Nacht würde er sie benutzen. In seinem Block würde ein Aufseher Dienst tun, und dieser Aufseher würde ihn in den anderen Teil des Gefängnisses bringen. Er würde Scott finden, und gemeinsam würden sie einfach hinausmarschieren.
Obwohl…
Erst jetzt, viel zu spät, kamen Jamie erste Zweifel. Scott hatte dieselben Fähigkeiten wie er – warum hatte er sie nicht selbst zum Ausbrechen benutzt? War da etwas, das Jamie nicht wusste? Warum war er so sicher, dass Scott hier war? Ein schrecklicher Gedanke drängte sich ihm auf. Scott konnte tot sein. Vielleicht war er entkommen und hatte sich in der Wüste verlaufen. Alles Mögliche konnte passiert sein.
Jamie saß allein auf seiner Pritsche und öffnete seine Gedanken, wie er es seit seiner Ankunft jeden Tag getan hatte. Auf der Suche nach einem Lebenszeichen von Scott schickte er seine Sinne durch die Flure und in alle Blöcke. Er
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