Schattenmacht
ohne dass sie etwas dafür konnten.
Jamie brauchte fünf Tage, um herauszufinden, was er wissen wollte. Keiner der anderen Jungen hatte Scott gesehen. Es gab keine Aufzeichnungen darüber, dass er jemals hier gewesen war. Aber Jamie wusste, dass das, was er bisher von Silent Creek gesehen hatte, nur eine Seite war. Es gab zwei Abteilungen in diesem Gefängnis, das wusste er von seiner Ankunft. Auf der anderen Seite der Mauer war noch ein Gefangenenbereich. Niemand hatte Verbindungen zur anderen Seite. Es gab dort eine eigene Sporthalle, Klassenräume, Küchen und Zellen, als wäre das Ganze eine kleinere Kopie des Hauptteils. Und natürlich gab es Gerüchte.
Auf der anderen Seite der Mauer, so hieß es, wären die Härtefälle untergebracht.
»Da sitzen die echten Verbrecher. Mörder und Verrückte und so.«
»Die sind bekloppt. Das habe ich jedenfalls gehört. Die haben was an der Birne.«
»Ja, das sind Behinderte. Geistesgestört. Die sitzen nur in ihren Zellen und starren die Wand an…«
Jamie saß mit vier anderen Jungen am Mittagstisch. Der Stuhl, auf dem er saß, war aus Metall und an dem im Boden verankerten Tisch festgeschweißt. Der Speiseraum war klein und hatte weiße Wände. Jede Form des Wandschmucks war in Silent Creek verboten, auch in den Zellen. Das Essen war allerdings nicht schlecht, auch wenn es auf unterteilten Plastiktabletts serviert wurde. Von den anderen Jungen war Jamie angenehm überrascht gewesen. Keiner von ihnen hatte ihn angepöbelt – im Gegenteil, sie hatten sich gefreut, ein neues Gesicht zu sehen. Vielleicht hatte auch seine Erfahrung im Jugendarrest geholfen. Er war von Anfang an einer von ihnen gewesen. Bisher hatte er auch seinen falschen Namen nicht benutzen müssen. Die anderen Jungen am Tisch nannten ihn Indianer. Er kannte sie als Green Eyes, Baltimore, DV und Tunes.
»Ich habe gehört, dass die niemand will«, sagte DV. Er war siebzehn, spanischer Abstammung und nach einer Schießerei aus einem fahrenden Auto in Las Vegas verhaftet worden. Die Jungen sollten einander zwar nicht nach ihren Vergehen befragen, aber sie taten es natürlich. DV war in einer Gang. Er hatte Tätowierungen auf beiden Armen und konnte es kaum erwarten, zu seiner Bande zurückzukehren. Seinen Vater kannte er nicht, und seine Mutter kümmerte sich nicht um ihn. Seine Gang war die einzige Familie, die er hatte. »Die haben keine Eltern«, fuhr er fort. »Deshalb machen sie jetzt Experimente mit ihnen. Da wird irgendwelches Zeug ausgetestet.«
»Wie viele sind es denn?«, fragte Jamie.
»Ich habe gehört, dass es zwanzig sind«, sagte Green Eyes. Jamie wusste nicht, woher er diesen Spitznamen hatte, denn seine Augen waren nicht grün, sondern blau. Er war fünfzehn und wegen Besitzes einer tödlichen Waffe – einer Pistole – verurteilt worden.
»Es sind mindestens fünfzig«, widersprach Tunes. Er war mit knapp vierzehn der jüngste Insasse des Gefängnisses. Er sah Jamie an und murmelte: »Stell besser nicht zu viele Fragen, Indianer. Sonst landest du früher oder später auch auf der anderen Seite.«
Jamie überlegte, woher all diese Gerüchte kamen. Aber so war das nun mal im Gefängnis. Geheimnisse gab es nicht. Irgendwie verbreiteten sich Neuigkeiten von einer Zelle zur nächsten, und zwar so unaufhaltsam wie der Wüstenwind.
Wie üblich wurden sie beim Essen überwacht. Nur zu den Mahlzeiten war es ihnen gestattet, sich zu unterhalten, aber sie durften nicht einmal aufstehen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Das störte Jamie am Leben in Silent Creek am meisten. Sie waren keine Menschen mehr. Sie waren fremdbestimmte Wesen. Zu keiner Tageszeit durften sie etwas allein tun. Der Mann, der sie jetzt beobachtete, war der dienstälteste – und gemeinste – Aufseher. Er war dick, hatte runde Schultern, dünnes Haar und einen Schnurrbart. Sein Name war Max Koring. Wenn ihnen jemand Ärger machte, dann war er es. Es schien ihm Spaß zu machen, die Gefangenen zu demütigen, sie ohne Grund zu durchsuchen oder ihnen für einen Monat alle Vergünstigungen zu streichen, nur weil er es lustig fand.
Baltimore lehnte sich über den Tisch. Er hatte diesen Spitznamen bekommen, weil er aus Baltimore stammte. Er war ein großer, gut aussehender schwarzer Junge, der nie über das Verbrechen sprach, das ihn nach Silent Creek gebracht hatte. »Wenn du was über die andere Seite wissen willst, musst du Mr Koring fragen«, flüsterte er. »Er arbeitet auf beiden Seiten.«
»Woher weißt
Weitere Kostenlose Bücher