Schattenmacht
erreicht, und jetzt sah Jamie seine neue Heimat, Silent Creek. Die beiden Worte standen auf einem Schild – wie unsinnig. Die Insassen wussten sicher, wo sie waren, und jemand anderen, der das Schild lesen konnte, gab es im Umkreis von etlichen Kilometern nicht. Jamie fühlte trotz allem, wie seine Aufregung wuchs. Er hatte dieses Schild schon einmal gesehen – im Kopf von Colton Banes. Scott war hier, irgendwo in diesem Komplex. Jamie war absolut sicher. Er würde seinen Bruder finden, und dann würden sie zusammen ausbrechen. Der Albtraum war fast vorbei.
Das Gefängnis war ein langer, rechteckiger Gebäudekomplex. Die Gebäude waren alle einstöckig, und das ganze Gelände war von einem mindestens zehn Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Zwei Satellitenschüsseln zeigten in den Himmel, und Jamie entdeckte auch ein Spielfeld mit zwei Toren. Natürlich war es kein Grasplatz, nicht in dieser Hitze. Die Oberfläche bestand aus gelb-grauem Sand. Am anderen Ende des Sportplatzes war eine Mauer, die wie alle anderen aus Ziegeln bestand. Auf der Mauer war noch mehr Stacheldraht. Als sie auf das Haupttor zufuhren, konnte Jamie erkennen, dass hinter der Mauer weitere Gebäude waren, aber ihm war klar, dass er sie nur sehen konnte, weil der Kleinbus noch nicht unten im Tal angekommen war. Aus irgendeinem Grund war Silent Creek unterteilt: ein Drittel auf einer Seite, zwei Drittel auf der anderen. Der Kleinbus fuhr zwischen einigen Häusern durch. Vermutlich lebten hier die Wachleute und Angestellten. Jamie ärgerte sich über sich selbst. Er war erst im letzten Augenblick aufgewacht und hatte keine Ahnung, wie weit es bis zur nächsten Stadt oder dem nächsten Ort war. Scott wäre besser vorbereitet gewesen. Aber jetzt war es zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie hielten vor dem Tor. Ein Summen ertönte, und das Tor glitt automatisch auf. Sie fuhren in einen schmalen, mit Stacheldraht eingefassten Gang und stoppten vor einem zweiten Tor, das sich erst öffnete, nachdem das erste wieder geschlossen war. Jetzt waren sie wirklich im Gefängnis angekommen. Jamie sah sich unauffällig nach Überwachungskameras um. Es gab keine Wachtürme. Es war überhaupt niemand zu sehen.
Der Kleinbus hielt, und der Wachmann, der die ganze Strecke mitgefahren war, öffnete die Tür. »Aussteigen!« Das war das einzige Wort, das er seit der Abfahrt gesagt hatte.
Jamie robbte von seinem Sitz und schlurfte zur Tür. Sofort schlug ihm die Hitze ins Gesicht. Es war wie ein körperlicher Angriff. Er musste die Augen zukneifen und sie dann langsam wieder öffnen, sonst hätte das gleißende Licht sie ihm verbrannt. Er begann zu schwitzen, denn hier mussten es mindestens fünfzig Grad sein. Er sah sich um. Die Sonne hatte nahezu alle Farben weggebrannt. Das Silber des Zauns, der graue Sand, die aschefarbenen Gebäude… sie alle schienen ineinanderzufließen wie auf einem überbelichteten Foto. Ein elektrischer Generator und ein Treibstofftank standen nebeneinander in einem verschlossenen Käfig. Sie waren leuchtend gelb. Sonst gab es nichts, das ins Auge fiel.
»Hier lang!«
Der Wachmann führte ihn zu einer Tür, die sich öffnete, als sie näher kamen. Jetzt entdeckte Jamie auch eine Überwachungskamera, die hoch oben angebracht war. Sie drehte sich und folgte jeder seiner Bewegungen. Die Tür führte in einen großen, schäbigen Raum, in dem ein zweiter Wachmann an einem Schreibtisch mit einem Computer saß. Es gab hier ein paar Zellen, ein paar Stühle, die nicht zusammenpassten, und eine Dusche, deren Vorhang halb zugezogen war. Der Raum wurde mit Neonlampen erhellt, denn er hatte keine Fenster. Wenigstens gab es hier eine Klimaanlage – eine wahre Erlösung nach der Gluthitze draußen.
»Setzen!« Es war der zweite Wachmann, der Jamie diesen Befehl gab. Er trug keine Uniform, nur Jeans und ein kurzärmliges Hemd. Jamie fiel auf, dass er unbewaffnet war. Er war ungefähr vierzig und hatte seine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er schien ein Indianer zu sein, und Jamie fragte sich, ob er aufgrund dieser Tatsache vielleicht mit etwas Mitgefühl rechnen durfte. Doch der Mann sprach ihn knapp und förmlich an.
»Mein Name ist Joe Feather«, sagte er. »Aber du nennst mich Mr Feather oder Sir. Ich bin für die Aufnahme zuständig, werde dich einkleiden und dich dann in die Orientierung bringen. Hast du das verstanden?«
Jamie nickte.
»Du wirst merken, dass das hier kein Zuckerschlecken ist. Du warst
Weitere Kostenlose Bücher