Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
träge Staubteilchen schwebten in Höhe seiner Augen. Es reichte weder, um gut sehen zu können, noch um zu erahnen, wie spät beziehungsweise wie früh es war. Draußen war es hell, das konnte er erkennen. Die Abdeckung der Fenster war bis auf wenige Zentimeter, wo die Folie eingerissen war, dicht. Er rieb sich die Augen und fand nur mühsam in die Realität zurück. Beim Blick auf seine Tissot-Uhr kniff er die Augen zusammen, auch dafür war es zu dunkel, die Ziffern leuchteten nicht von selbst.
Als er die schmerzenden Glieder streckte, knackte es im rechten Kniegelenk. Dann stand er auf.
Der Raum lag vor ihm, eingetaucht in milchig grauen Schleier, die IKEA-Lampe brannte nicht mehr und er fand den Schalter nicht. Martin beschloss, in knappen Zügen den gestrigen Tag sowie den Abend zu rekonstruieren. Vor allem der Abend schien ihm mehr als unwirklich gewesen zu sein. Gab es tatsächlich eine Verschwörung, in die er nun verwickelt war, in der er Ziel, Opfer und Wild und nicht Jäger war? Würde man ihn tatsächlich aufspüren, sollte er dieses Haus verlassen? Geortet per Satellit.
Die Gedanken kreisten nicht um Geschehenes, sondern um dessen Glaubwürdigkeit. Was war Realität, was Traum? Er begann sich zu erinnern: der Ausflug über die finsteren Flure, das Treppenhaus, die Stimmen hinter der Tür von Jerome. Ein Griff an die Seite seines Gürtels ließ ihn endgültig wach werden; die Waffe war weg. Sie lag oben bei Jerome, schussbereit auf einem Tisch mit Überwachungsmonitoren und Scannern, die futuristische Identifikationschips lokalisieren konnten. Martin wischte sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, die Haare schneiden zu lassen, verlockend vor. Das Kinn und die Wangen waren unrasiert und er neigte den Kopf zu den Achseln. Er brauchte dringend eine Dusche. Die Klamotten hingen zerknittert an seinem Körper herab, der auf einem durchgesessenen Sofa nächtigen musste. Und sie rochen nach Muff, nach altem Staub und jahrelang nicht gelüfteten Räumen.
Martin stieg die Stufen ins nächste und übernächste Stockwerk hoch und erreichte den Flur, in dem Jerome hauste. Von Weitem sah er die Stahltür offen stehen. Ungewöhnlich für Jerome, der doch so ausgeprägt auf Sicherheit aus war, dachte Martin. Er näherte sich der Tür und rief aus einer Entfernung von vielleicht fünf Metern:
»Hallo, Jerome. Guten Morgen.« Er klopfte an die Metallzarge, niemand antwortete. Langsam ging er hinein. Wieder rief er: »Hey, Jerome!« Er sah sich um und vor ihm tat sich die Weite der Halle auf, die Jerome als Büro missbrauchte. Alles war wie am Vorabend, die Dokumente stapelweise auf dem Boden verstreut. Bücher, Zeitschriften und Artikel, schlampig verteilt und doch genau dort abgelegt, wo Jerome sie wiederfinden würde. Martin streifte durch die Halle und nahm den Tisch in Augenschein, auf dem der Scanner lag. Jetzt erst begriff er, was in seinem Blickfeld fehlte: die Waffe. Sie war fort. Der Halfter lag noch da, nun ohne den Chip, den man ihm verpasst hatte, doch die Pistole steckte nicht darin. Er blickte sich um. Alles war dunkel und menschenleer. Das an sein Ohr gedrungene Gespräch vom gestrigen Abend fiel ihm ein. Mit wem hatte Jerome gesprochen, mit wem sich gestritten? Wer lebte hier noch? Eine WG womöglich, die ein Haus besetzt hielt? Für Hamburger Verhältnisse nicht ungewöhnlich.
»Jerome?« Martin ging weiter. »Jerome!«, rief er lauter. Die Befürchtungen in seinem Kopf spielten verrückt. Er hatte seine Dienstwaffe einem Fremden überlassen, hatte die Sorgfaltspflicht eklatant verletzt und dieser Fremde marschierte jetzt mit seiner Waffe durch Hamburg und machte sonst was damit. Er musste ja nicht gerade Leute umbringen, sie zu bedrohen würde schon reichen.
»Jerome!«, rief er erneut, während er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Erstaunlich genug, dass nun alles offenstand, alle Räume waren ihm zugänglich. Das Zimmer, das an die Halle angrenzte, war ihm am nächsten. Er schritt über die Schwelle des Raumes und blickte auf eine am Boden liegende Matratze. Eine umgedrehte Holzkiste mit der Aufschrift ›Jaffa‹ stand daneben, auf der eine kleine Nachttischlampe stand. Ihr Licht war aus. Ausgedrückte Aluminiumpackungen von Medikamenten verschiedener Art lagen verstreut auf dem Boden herum. Unzählige Bücher auf dem Boden verteilt, wie schon nebenan in dem größeren Raum. Dann erblickte er eine Tür, halb angelehnt, sie führte zu einer Art
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