Schattenmelodie
Ich würde es schaffen. Und wenn es zu anstrengend für mich selbst werden sollte, dann konnte ich umdrehen, während Grete weiterflog. Es ging schließlich nur um den Absprung, den sie wagen musste. Lilonda würde sie bis zum Felsen begleiten.
Die Minuten vergingen, aber Grete kam nicht wieder. Ich öffnete die Eisentür und rief nach ihr. Keine Antwort.
Eine schlimme Ahnung stieg in mir hoch. Irgendetwas stimmte nicht. Hatte ich sie jetzt doch zu lange sich selbst überlassen? Ich stieg die Leiter hinab, suchte die ganze oberste Etage ab. Nichts. Dann sah ich die Anzeige des Fahrstuhls. Er war bis ins Erdgeschoss gefahren. Ich drückte panisch auf dem Knopf herum, als wenn er davon schneller wieder hochkommen würde. Ewige Sekunden später war er endlich da. Ich fuhr nach unten. Der Pförtner hatte Grete das Haus verlassen sehen. Sie war gerannt, die Straße hinunter, nach rechts. Er hatte sie nicht aufgehalten, weil sie nicht den Eindruck gemacht hatte, sie würde vor etwas weglaufen, sondern als hätte sie ein klares Ziel.
Ein klares Ziel? Wo sollte das sein? Beging sie jetzt doch eine Dummheit? Deutete sie etwas falsch an ihrem Traum? Dachte sie, auch ein kleineres Haus würde für den Absprung reichen? Meine Güte, ich wusste doch, dass sie bockig war wie der sturste Ziegenbock. Es würde zu ihr passen, aus Trotz einfach was anderes zu versuchen, als der Traum ihr vorgab. Natürlich hätte ich ihr sofort nachlaufen müssen!
Ich machte mir schwere Vorwürfe und suchte die ganze Gegend ab. Zuerst das Haus am Wetterplatz 8, das Dach, den Dachboden, ihre Wohnung, aber da saßen nur Viktor und Emma in ihrem Chaos, während ein Polizist ihnen erklärte, Grete bis jetzt nirgendwo aufgespürt zu haben.
Ich flog bei Luisa vorbei, aber sie schlief friedlich. Allerdings bemerkte ihr Vater mich, der von Schlaflosigkeit geplagt am Küchentisch saß und eine heiße Milch mit Honig trank.
„Neve, was machst du hier?“, flüsterte er.
„Ich suche Grete. Sie entwickelt Fähigkeiten. Es sah ganz so aus, als wenn sie heute Nacht so weit wäre. Ich war mit ihr bereits auf der Plattform. Aber sie hat Höhenangst und dann ist sie einfach abgehauen.“
„Grete entwickelt Fähigkeiten? Ich war froh, dass Luisa endlich eine neue Freundin gefunden hatte, die sie ein wenig über Kiras abrupte Abreise hinwegtröstete. Arme Luisa. Wie soll sie das nur begreifen? Aber, Höhenangst?“
„Ja, eine komplizierte Sache. Ich weiß.“
„Nein, mich wundert nicht das mit der Höhenangst. Mich wundert, was ihr auf der Plattform getan habt.“
Ich sah ihn verständnislos an. „Grete isst nichts mehr seit einiger Zeit und seit ein paar Tagen trinkt sie auch nichts mehr“, erklärte ich.
„Das stimmt nicht. Die letzten zwei Male, die Grete hier war, hat sie sich richtig vollgestopft, allerdings ausschließlich mit Fischstäbchen. Alle Packungen aus der Tiefkühltruhe sind alle. Aber das macht nichts. Ich weiß ja, dass bei ihr zu Hause alles etwas schwierig ist. Ich habe mitbekommen, dass Luisa es so deutete, dass sie entweder schwanger sein muss oder irgendein Kindheitstrauma wiederbelebt, das im Zusammenhang mit Fischstäbchen steht. Aber Grete hat sich nur schlapp gelacht.“
„Fischstäbchen?“ Konnte ich mich so geirrt haben?
„Sie hat dich wohl an der Nase herumgeführt. Aber sie ist zäh. Mach dir also nicht zu viele Sorgen.“
„Was soll ich denn jetzt tun?“ Ich nahm Gestalt an und setzte mich zu Matthias an den Tisch.
Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wenn du hier bereits alles abgesucht hast, dann sieh als Nächstes am besten in der magischen Welt nach und befrage die Undinen am Wasserdurchgang.“
Teil III
Kapitel 34
Ich landete auf dem Felsen, lief ein paar Schritte in den Wald, um dem Geplapper von Lilonda zu entgehen, und legte mich erst einmal eine Weile auf den moosigen Boden. Luisas Vater hatte mir noch eine Tablette gegeben. Trotzdem fühlte ich mich sehr schwach. Aber ich hatte es in die magische Welt geschafft.
Die Vögel sangen in den Bäumen. Ihre Lieder vermischten sich mit dem Klingen der Blüten. Ich sog den herrlich lauen Duft des magischen Waldes ein. Die Luft war so warm und wohltuend. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus.
Die Sonne war bereits untergegangen. Durch die Baumwipfel schimmerte das Violett des Abends. Noch einen Augenblick. Dann erhob ich mich. Die Energie des magischen Waldes ließ schnell wieder neue Kräfte durch mich fließen. Ich zog
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