Schattenmelodie
da draußen verpisst hat“, sagte sie entschlossen, während sie sich Haarsträhnen und Wassertropfen aus dem Gesicht wischte.
Ich war erleichtert. Grete schien auf dem richtigen Weg.
Vorsichtig riskierte ich einen erneuten Blick aus dem Fenster. Der Polizist patrouillierte immer noch vor dem Haus.
„Okay, dann lass es uns über die Dächer versuchen. Drei Häuser weiter gibt es ein älteres Haus, wo der Dachboden nicht abgeschlossen ist und meist auch die Haustür nicht. Es führt in die nächste Straße um die Ecke. Wir müssen nur aufpassen, dass der zweite Typ mit dem Auto nicht gerade zurückkommt.“
Grete nickte. Leise stiegen wir die Treppen hinauf zum Dachboden.
Mit allerhöchster Präzision setzten wir auf dem Dachboden einen Schritt vor den anderen, damit Tom nicht aufwachte und nachsehen kam, wer sich hier oben herumtrieb.
Ich stieg zuerst die Leiter hinauf, schob die Dachluke beiseite und reichte Grete die Hand, um ihr aufs Dach zu helfen. Grete blieb in der Hocke und begann, auf allen Vieren zum ersten Schornstein zu kriechen. Oh je, wie sollte ich sie nachher nur dazu bringen, von einem noch viel höheren Haus in die Tiefe zu springen?
Es war eine sehr dunkle und sternenlose Nacht. Wir kamen nur langsam voran, weil Grete sich in Zeitlupe von Schornstein zu Schornstein bewegte. Sie machte ein verbissenes Gesicht. Vielleicht half die Zeitverzögerung, dass die blöden Polizisten endlich verschwanden. Die Dachluke des besagten Hauses kam in Sicht.
„Okay, ich gehe vor und sehe nach, ob der Dachboden offen ist. Bau inzwischen keinen Mist, ja?!“
„Äh, sorry, aber wir bauen die ganze Zeit schon Mist.“
Der Boden war nicht verschlossen. Ich winkte Grete, dass sie mir folgen sollte und kletterte in das Haus. Nervös starrte ich auf das offene Viereck im Dach und wartete, dass Grete erschien. Und dann, endlich, nach einer ganzen Weile, stieg sie die Leiter herunter und wir schlichen durch den Hausflur nach unten. Die Haustür war offen.
„Warte hier“, flüsterte ich. „Ich schaue nach, ob die Luft rein ist.“ Ich öffnete die Tür und verließ das Haus. Niemand befand sich auf der Straße. Auch von weiter weg konnte ich kein Auto hören.
Ich gab Grete ein Handzeichen. Sie folgte mir und dann rannten wir, die Kapuzen unserer Mäntel tief ins Gesicht gezogen.
„Los, da ist ein Taxi!“
Ich lief halb auf die Straße und hielt es an, auch wenn wir nur noch gut fünfhundert Meter zu laufen hätten, aber ich hatte gerade zwei Tage Fieber hinter mir und musste meine Kräfte schonen, um Grete sicher durch den Durchgang zu bringen. Außerdem waren wir so von der Straße weg und sicherer. Ich gab dem Taxifahrer die Adresse durch und er grinste.
„Da steigt wohl noch ’ne wilde Party. Na, dann, nichts wie hin!“
Er schien zu wissen, dass sich in dem hässlichen Hochhaus noch aus DDR-Zeiten Ateliers von Künstlern und Fotografen befanden. Ich lächelte einfach nur in den Rückspiegel und hoffte, dass ihm nicht doch noch auffiel, dass wir für eine Party ziemlich ungeschminkt und zerzaust aussahen.
Der Pförtner unten im Haus, den es hier gab, weil sich in dem Gebäude auch Firmen angesiedelt hatten, grüßte mich. Er war einer von uns. Ich warf einen vielsagenden Blick auf Grete und grüßte zurück.
Wir stiegen in den Fahrstuhl, ich drückte auf den Knopf für die 21. Etage.
„War der Pförtner in deinem Traum?“, fragte ich Grete.
Sie schien einen Moment zu überlegen, dann nickte sie. Ansonsten schwieg sie die ganze Zeit und sah mich immer nur mit einem seltsamen Blick an, den ich nicht zu deuten verstand.
Wir stiegen oben aus. Ich ließ Grete den Vortritt. Sie war es, die wissen musste, wo es lang ging. Sie musste den Weg bestimmen, zu ihrer eigenen Sicherheit, auch wenn eigentlich kein Zweifel mehr bestand. Grete blieb einen Moment unschlüssig stehen und sah mich fragend an.
„Es ist dein Weg. Der Weg aus dem Traum.“
Sie setzte sich in Bewegung, erst in die falsche Richtung. „Wir müssen ganz nach oben?!“
Es klang, als müsste sie sich das selber fragen. Kurz beschlich mich erneuter Zweifel. Hatte sie wirklich den richtigen Traum gehabt? Nicht, dass ihr Ausraster doch andere Ursachen hatte?
Doch dann lief sie auf einmal schnurstracks in die richtige Richtung, stieg die Feuerleiter hoch, öffnete die schwere Eisentür zum Dach und kauerte sich sofort zusammen wie ein Igel, als uns der eisige Wind in schwindelnder Höhe empfing. Ich hockte mich neben sie, suchte nach
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