Schattenmelodie
anhielt. Meinen Körper spürte ich nicht. Ich war zwischendrin unsicher über meine Identität, sah das Hellblau meines Kleides und überlegte, ob ich ein Stück Himmel, ein blauer Kristall oder einfach ein Fetzen Seidenstoff war. Die ganze Zeit hatte ich furchtbare Angst, Todesangst. Musste ich jetzt sterben?
Aber in der magischen Welt starben Menschen doch erst, wenn sie sehr alt waren und sie das sichere Gefühl empfanden, all ihre Aufgaben seien erfüllt! Oder gab es vielleicht Ausnahmen? Menschen wie mich, die schon halb keine Menschen mehr waren? Dabei lag es doch gerade an meiner Angst vor dem Tod, dass ich mich ganz in die magische Welt zurückgezogen und so weit wie möglich von meinen menschlichen Bedürfnissen entfernt hatte. Wurde mir das nun zum Verhängnis? Ich zitterte, spürte, wie ich panisch wurde und sich dadurch alles nur noch schneller um mich drehte.
Irgendwann war der Spuk vorbei. Ich lag einfach nur noch still da, die Augen geschlossen, während sich in mir und um mich eine wohlige Dunkelheit ausbreitete. Ich hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Draußen war es ebenfalls stockdunkel. Im Haus herrschte Stille. Ich spürte, dass Kira nicht da war, und war immer noch froh darüber, auch wenn ich mir gleichzeitig Sorgen machte. Aber so hatte sie mich wenigstens nicht in diesem unmöglichen Zustand gefunden, jemanden vom Rat verständigt und mein Problem vielleicht zu einem größeren Thema gemacht.
Vorsichtig erhob ich mich und streckte die Glieder. Der Schwindel kam nicht wieder. Ich knipste die kleine Lampe neben dem Spiegel an und sah mir ins Gesicht. Ich hatte leichte Schatten unter den Augen, aber sonst schien wieder alles in Ordnung zu sein. Das ganze musste von dem Eierkuchen herrühren. Daran bestand kein Zweifel. Ich band meine Haare zu einem Zopf zusammen und ging vorsichtig die Treppe nach unten. Meine Beine gehorchten mir wieder.
Auf dem Küchentisch standen die Reste von unserem Essen, das wir beide so abrupt beendet hatten. Auf meinem Teller lag noch ein halber Eierkuchen. Die Marmelade dazu hatte ich nicht angerührt. So viel hatte ich also gar nicht gegessen. Der noch fast volle Malzkaffee war jetzt kalt. Ich schüttete die Essensreste in den Mülleimer und beschloss, Kira zu suchen. Irgendetwas musste passiert sein.
Immerhin rührte sich draußen kein Lüftchen. Das war schon mal ein gutes Zeichen. Sie hatte kein Chaos mit dem Wetter angestellt, so wie beim letzten Mal.
Es war eine Regel in der magischen Welt, dass man sich trotz besonderer Fähigkeiten normal verhielt und sie nur einsetzte, wenn es nötig war. Auch wenn das so war, ich musste wissen, ob meine magischen Fähigkeiten noch intakt waren. Ich erhob mich in die Luft, flog ein bisschen durch den Wald und versuchte, mich aufzulösen. Zum Glück funktionierte alles wie gewohnt und niemand erwischte mich dabei. Ich hatte also keinen größeren Schaden genommen.
Ich suchte am magischen See nach Kira, sah im Akademiecafé nach und dann an Kiras persönlichem Ort, dem glitzernden Miniatur-Dom von Orvieto. Aber ich konnte sie nirgends finden.
Am Horizont zeigte sich das erste Violett des nahenden Morgens. Schnell verwandelte es sich in ein zartes Rosa. Dann tauchte die Sonne wie eine rote Blume aus dem Wasser des magischen Sees auf und die Blüten begannen zu klingen, während sie anfingen, sich von den Ästen zu lösen und die Luft zu verzaubern.
Verdammt! Wo steckte Kira nur? Die Schuld würde auf mich zurückfallen. Ich hatte sie schließlich so aufgebracht. Und dann hatte ich sie auch noch aus den Augen gelassen.
Ich beschloss, nach Hause zurückzukehren, in der Hoffnung, dass sie inzwischen aufgetaucht war. Wenn nicht, dann musste ich ihr Verschwinden dem Rat melden.
In dem Moment vernahm ich unweit von mir Schritte. Das war Kira! Sie ging den Waldweg hinauf zu unserem Haus, als wenn nichts wäre. Puh, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich straffte mich, fest entschlossen, so unbekümmert wie möglich zu erscheinen, und lief ihr hinterher.
„Hey!“, rief ich, ungefähr dreimal. Dann drehte sie sich endlich um.
„Ich war bei Leo …“, verkündete sie trotzig.
Na toll! Ich hatte sie also von Tim fortgerissen und geradewegs in Leos Arme getrieben.
„Mensch, Kira, es tut mir alles so leid … Es ist doch gar nicht sicher, ob Luisa und Tim zusammen sind.“
Nach dem Satz fühlte ich mich sofort besser, aber Kira machte eine wegwerfende Geste: „Es ist mir egal. Es war nur eine dumme
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