Schattenmelodie
angespannt und ich überlegte fieberhaft, was ich tun würde, wenn er mich anfassen sollte. Doch er hat mich nur angeschaut, ein paar Minuten lang, das habe ich gespürt, während ich versuchte, tief und regelmäßig wie eine Schlafende zu atmen. Dann hat er das Zimmer wieder verlassen.“
„Aber warum glaubst du, dass er deine Mutter umgebracht hat?“
Ich spürte, wie mein ganzer Körper bebte, als wäre er unter Dauerstrom. Wie eine Welle schlug die Angst meiner Kindheit über mir zusammen und drohte, mich mit sich fortzunehmen.
Janus merkte es. „Neve, es ist nicht jetzt und nicht hier. Es ist ganz lange her“, versuchte er mich mit seiner tiefen melodischen Stimme zu beruhigen. Und es half.
„Mein Vater war mir schon immer unheimlich. Er war so still, als wäre er für den Rest seines Lebens verstummt. Ich kann mich nicht an seine Stimme erinnern. Er hatte diesen finsteren Blick, so komplett ausgelöscht. Ein finsterer Mann in einem finsteren Haus in einem finsteren Wald. Ich habe manchmal meine Oma gefragt, warum Papa so traurig ist, was mit ihm ist, ob es meinetwegen ist? Kinder denken immer, sie sind schuld daran, wenn es den Erwachsenen nicht gut geht. Und ich habe das natürlich auch gedacht. Aber sie sagte nur, es ist nichts, er ist eben so, aber er sei ein guter Mensch und er sorge für mich und für sie und ich solle niemals glauben, dass es meine Schuld sei. Dann, als ich ein bisschen älter war, sagte sie einmal, es sei wegen meiner Mutter. Er sei so traurig, seit sie nicht mehr da ist. Davor sei er ein sehr fröhlicher Mensch gewesen. Aber daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich wollte wissen, warum meine Mutter gestorben war, und sie erklärte mir, dass es ein Badeunfall am Strand in Danzig gewesen war.“
„In Danzig?“
„Ja. Da haben sich meine Eltern kennengelernt. Mein Vater ist in den Masuren aufgewachsen und hat in Danzig Forstwirtschaft studiert. Meine Mutter Anna wurde in Deutschland geboren, aber ihre Wurzeln liegen ebenfalls in Polen. Sie war das Kind einer Polin und eines englischen Spions. Ihre Mutter, Irene, meine Großmutter, die mich großgezogen hat, wurde damals im Krieg nach Deutschland geschickt, während ihre Großeltern auf dem Land überlebten.
Meine Eltern haben sich im Wald kennengelernt, in der Nähe von Danzig, als meine Mutter ihre Großeltern dort besuchte. Sie haben beide den Wald geliebt. Das hat mir meine Großmutter einmal erzählt. Ihr gehörte das Forsthaus in Brandenburg, in dem ich aufgewachsen bin. Fast wie eine Fügung für meinen Vater, der Forstwirtschaft studierte. Natürlich beschlossen meine Mutter und er dorthin zu ziehen. Als ich ein Jahr alt war, besuchten wir die Heimat meines Vaters und meine Urgroßeltern, und da ist es dann passiert. Der Unfall.“
„Der Unfall …“, wiederholte Janus nachdenklich.
„Offiziell war es ein Unfall, aber ich habe an einem Abend ein Gespräch zwischen meiner Oma und meinem Vater belauscht. Erst wusste ich nicht, ob es mein Vater war, weil ich ihn doch nie sprechen hörte. Mir war nicht klar, was mich mehr schockierte: dass mein Vater seine Stimme erhob oder dass meine Großmutter und er sich stritten. Ich stand wie erstarrt im eiskalten Flur und die Worte trafen mich wie Eisklumpen.“
Ich atmete noch einmal tief durch, strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah Janus an. „Es ist … schwer … jemanden mit all dem zu belasten.“
„Du belastest mich nicht. Das weißt du“, antwortete Janus und reichte mir eine Flasche Wasser, die auf dem Boden neben dem Sofa stand. Ich trank ein wenig, spürte, wie die Flüssigkeit wohltuend den Rachen hinunterlief, und fühlte mich sofort ein bisschen besser.
„Mein Vater sagte, er wisse, dass meine Oma ihm die Schuld am Tod meiner Mutter gab. Und er sagte, dass sie recht habe. Meine Oma stritt das ab. Und meinen Vater machte das wütend. ,Ich habe sie umgebracht‘, hat er gesagt. Er packte meine Oma an den Armen und schüttelte sie. Ich wollte schreien, aber kein Ton kam aus meiner Kehle. Ich war wie erstarrt. Aber ich erinnere mich bis heute an jedes einzelne Wort, das er damals gesagt hat: ,Ich habe sie umgebracht. Es ist meine Schuld. Ich kann damit nicht länger leben. Ich sehe, wie Neve größer wird. Jeden Tag erinnert sie mich mehr an Anna, verstehst du? Anna, die ich auf dem Gewissen habe. Ich habe Angst vor Neve. Ich habe Angst, dass ich ihr auch etwas antue!‘
Es war für kurze Zeit still. Dann sagte meine Oma: ‚Du weißt
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