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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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den Schuppen, schnappte mein Fahrrad und raste in den dunklen Wald hinein. Ich verspürte keinerlei Angst. Ich musste meine Oma einholen, die sich auf den Weg in den Himmel befand. Mein Nachthemd verfing sich in den Pedalen. Ich fiel einige Male hin, riss immer wieder Fetzen des Stoffes aus der Fahrradkette und fuhr die ganze Nacht. Ich hatte plötzlich ein Bild vor Augen, eine weiße Plattform aus Beton, hoch oben und von Wolken umgeben. Die musste ich finden, um von ihr zu springen und in den Himmel zu fliegen.
    Das Bild war mächtig und verdrängte jeden vernünftigen Gedanken. Ich irrte durch den Wald. Waren es Tage oder Wochen? Ich wusste nicht, wie lange. Ich spürte keine Kälte, keinen Hunger, keinen Durst. Ich brauchte nichts. Ich bildete mir ein, dass ich dabei war, ein Engel zu werden. Meine Großmutter hatte immer gesagt, ich wäre ein Engelchen. Und jetzt wollte ich zu ihr.
    Irgendwann stellte ich fest, dass ich im Kreis herumgeirrt war und fand mich vor dem Forsthaus wieder. Eine Frau aus dem Dorf trat gerade aus der offenen Eingangstür und stieß einen Schrei des Erstaunens aus, als ich plötzlich vor ihr stand, zerzaust, verdreckt, zerrissen, aber lebendig.
    Ich erfuhr, dass man meine Oma in eine Urne getan hatte und sie begraben wollte, sobald es keine Hoffnung mehr gab, dass ich wieder auftauchte. Ich drängte die Frau, mir die Urne zu zeigen. Sie stand im seit vielen Jahren nicht mehr genutzten und verstaubten Arbeitszimmer meines Vaters auf dem Schreibtisch. Während die Frau aus dem Dorf die Polizei anrief, griff ich mir die Urne und floh abermals. Ich musste endlich diese Plattform finden.“
    „Das Hochhaus am Alexanderplatz“, sagte Janus. Ich sah in die Flammen und nickte.
    „Ich habe keine Ahnung, wie mir das in der mir völlig unbekannten Hauptstadt gelungen ist. Meine Erinnerung an den Weg dorthin ist komplett gelöscht. Ich weiß nur noch, wie ich mit einem Fahrstuhl viele Etagen hinaufgefahren bin, durch eine Eisentür auf das Dach stieg, die Plattform aus meiner Fantasie wiedererkannte und ohne zu zögern in die Tiefe sprang. Unter mir breitete sich nachtschwarzer Himmel aus, der an einer Stelle aufriss und den Blick auf ein hellblaues Himmelstück freigab. Ich wusste, da muss ich hin. Dort leben die Engel.“
    Janus drehte sich langsam zu mir und sah mich an. Er wollte seine Hand wieder von meinem Arm nehmen, aber ich griff nach ihr. Er sollte mich weiter festhalten. Behutsam hob er seine andere Hand und strich mir über den Handrücken.
    „Du bist nicht schuld am Tod deiner Großmutter“, versicherte er mir.
    „Ich weiß“, antwortete ich. „Genauso wenig wie du am Tod deines Vaters.“
    Janus nickte. „Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Ich kann dir nicht sagen, wie viel es mir bedeutet!“
    Ich hätte es bei dem belassen können, aber zum ersten Mal verspürte ich das übergroße Bedürfnis, alles zu erzählen. Auch das, was ich bisher vor der ganzen Welt verschlossen gehalten hatte, nicht nur vor dem Rat oder Kira, sondern auch vor meiner Großmutter. Ich musste mich befreien davon. Ich musste es ebenfalls ans Tageslicht bringen.
    „Das ist nicht alles. Es gibt da noch etwas, was mich verfolgt und was ich noch nie jemandem erzählt habe.“ Ich machte eine kleine Pause und holte tief Luft. Janus wollte etwas erwidern, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich glaube, dass mein Vater meine Mutter umgebracht hat und dass er deswegen verschwunden ist.“
    Es war raus!
    Das, was mich mein Leben lang beschäftigt und mir Albträume beschert hatte. Ein wesentlicher Grund, warum ich es genossen hatte, ein Engel zu sein, nicht mehr zu schlafen und dadurch nicht mehr diese Träume zu haben.
    Janus nahm meine Hand in seine beiden Hände. „Aber warum?“
    „Weil …“ Ich holte abermals tief Luft. „Ich hatte immer Angst vor ihm, weil ich glaubte, dass er mich auch eines Tages umbringen würde. Deswegen bin ich oft zu meiner Großmutter ins Bett gekrochen. Fast jede Nacht bin ich davon aufgewacht, dass er an meinem Bett stand – ein großer schwarzer Schatten, der sich über mir aufbaute, nach meiner Kehle griff und zudrücken wollte.“
    „Er hat an deinem Bett gestanden?“
    „Nein, nicht in Wirklichkeit. Ich habe das nur geträumt. Es ist nur zwei Mal vorgekommen, dass er tatsächlich in mein Zimmer kam, als ich bereits im Bett lag. Das eine Mal in der Nacht, bevor er verschwand. Ich tat so, als wenn ich schon schlief, aber mein ganzer Körper war

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