Schattenmelodie
dass er mich auch so verstand.
Als ich an unseren Platz zurückkehrte, erkannte ich an Finns Gesichtsausdruck, dass Janus ihm inzwischen alles erzählt hatte und hatte einen Entschluss gefasst.
„Wäre es möglich, dass du mich zu ihm bringst?“, fragte ich Finn.
Finn sah mich nachdenklich an.
„Möglich schon. Heute Nachmittag wollte ich zu ihm, um ihm Essen zu bringen, das er sich einfrieren kann. Aber …“
„Er wird mit deinen Erinnerungen an ihn nichts mehr gemeinsam haben“, sagte Janus.
„Das weiß ich.“
Finn band seine Küchenschürze ab. „Und er wird dir gegenübertreten, als wärest du eine Fremde.“
„Ich weiß. Aber – ich muss ihn sehen.“
Finn seufzte.
„Nun gut. Vielleicht könntet ihr vorgehen zu meinem Haus und auf mich warten, bis ich hier mit allem fertig bin und dann machen wir uns zusammen auf den Weg. Janus, du weißt doch noch, wo ich wohne?“
„Natürlich“, antwortete er und erhob sich.
Ich erhob mich ebenfalls und sah Finn an: „Danke.“
„Du musst mir nicht danken. Ich bin Janus dankbar, dass er dich gefunden hat. So kann ich mein Versprechen einlösen, und dir den Brief geben. Weißt du, deinem Vater war es sehr wichtig, dass du ihn bekommst, sobald du achtzehn bist. Aber als ich in deinem Dorf ankam, warst du bereits drei Jahre t…“
Tot, hatte er sagen wollen, aber dann sagte er: „… fort.“
„Warum bist du nie in die magische Blase von Berlin …?“
Finn hob entschuldigend die Arme.
„Weil ich niemals auf die Idee gekommen wäre, dich dort zu finden. Dein Vater war davon überzeugt, dass du keine magischen Talente geerbt hast.“
„Aber … warum?“
„Ich denke, er hat in dir immer nur deine Mutter gesehen.“
Das versetzte mich in einen eigentümlichen Schmerzzustand. Natürlich, das passte. So hatte mein Vater sich verhalten. Er hatte mich nie richtig wahrgenommen. Für einen Moment kamen mir Zweifel. Wollte ich ihn wirklich wiedersehen? Diesen fremden Mann? Nach so vielen Jahren? Würde das nicht viel zu sehr wehtun? Besonders, weil er sich doch an nichts mehr erinnern konnte? Janus sah mir an, was hinter meiner Stirn vor sich ging, während wir uns auf den Weg zu Finns Haus machten.
„Ich glaube, dass es gut ist, ihn zu treffen, damit du Frieden schließen kannst mit deiner Vergangenheit. Nur dafür.“
„Ich weiß“, seufzte ich.
Janus nahm mich in den Arm und drückte mich an sich. Sofort hatte ich das Gefühl, dass mir nichts etwas anhaben konnte, kein böser Zauber, kein Drache und auch nicht die Vergangenheit.
Kapitel 45
Wir warteten auf einer grob gezimmerten Bank aus angetriebenen Baumstämmen, die das Meer glatt poliert hatte. Finn schloss die niedrige Tür seines mit Bambus verkleideten Häuschens ab und kam auf uns zu. In der Hand hielt er einen leicht vergilbten Umschlag und reichte ihn mir.
Ich nahm den Brief und betrachtete ihn. Für meine Tochter, stand darauf. Es war eindeutig die Handschrift meines Vaters. Ich drehte ihn um und fuhr mit dem Finger über die Linien, an denen er zugeklebt war. Das kleine Stück Papier wog schwer in meiner Hand.
„Sollen wir dich einen Moment allein lassen?“, fragte Janus.
„Oh, nein. Nein“, antwortete ich und erhob mich. „Ich lese ihn später.“
Janus und Finn sagten nichts, sondern schauten mich nur an, während ich den Brief einsteckte.
„Wollen wir los?“ Ich versuchte, möglichst gelassen zu klingen.
Janus stand ebenfalls auf und wir setzten uns in Bewegung. Mich beunruhigte diese Botschaft aus der Vergangenheit zutiefst. Sie kam mir vor wie eine Bombe mit einem Zeitzünder, der ablief, sobald ich sie las. Ein Brief von jemandem, der nicht mehr lebte und der noch lebte.
Ich wollte am liebsten SOFORT wissen, was darin stand und gleichzeitig wollte ich es NIE wissen. Vielleicht enthielt er wichtige Antworten, aber ich hatte Angst davor, dass sie wehtun könnten.
Ich fürchtete, dass sein Inhalt mich völlig aus dem Gleichgewicht brachte und ich dann nicht mehr fähig wäre, meinen Vater zu besuchen. Ich wollte zuerst diesen fremden Mann sehen, der mein Vater war. Und dann wollte ich ganz allein sein mit dem Brief.
Es war seltsam, sich von Janus und Finn am Strand zu trennen, damit jeder seinen Durchgang benutzen konnte, um in die reale Stadt zu gelangen. Janus beschrieb mir, wo wir uns treffen würden.
„Du wirst über der Altstadt von Danzig ankommen. Fliege in Richtung Motława, die vom Hafen direkt in die Stadt fließt. An ihrem Ufer
Weitere Kostenlose Bücher