Schattenmelodie
nämlich ein Meisterkoch, müsst ihr wissen. Wart ihr schon in seinem Restaurant in Danzig?“
Sein Sohn … Finn war nicht sein Sohn. Ich war seine Tochter. Etwas in mir wollte es laut rufen, aber natürlich würde er mich nur ansehen, als wäre mit meinem Verstand etwas nicht in Ordnung.
Die Wahrheit gab es nicht mehr. Die Realität war eine andere geworden. Ich war nicht seine Tochter, sondern Finn war sein Sohn. Finn war seine neue Geschichte.
„Wir sind heute erst in Danzig angekommen“, sagte Janus.
„Und da fahrt ihr als Erstes raus zu einem alten Mann in den Wald?“ Mein Vater lächelte offen. „Ich fühle mich geehrt. Aber nun kommt erst mal rein. Ich mache euch einen Tee. Besonders die kleine Dame scheint ja schon völlig durchgefroren zu sein.“
Er berührte mich freundlich an der Schulter und wieder lief eine Träne über meine Wange. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mein Vater mich als Kind je berührt hatte. Es war immer nur in meinen angstvollen Träumen geschehen, nie in Wirklichkeit.
Die nächste Stunde zog an mir vorüber wie eine Tagtraumfantasie. Alles war unwirklich, weit weg, ungreifbar.
Von innen wirkte das Häuschen aufgeräumt. Er hatte es hell und freundlich mit selbst gezimmerten Möbeln eingerichtet. Eine Wand bestand komplett aus Büchern. Mein Vater schenkte uns aus einem Samowar in feine, bunte Gläser ein. Er war sehr redselig, humorvoll und aufmerksam. Er lachte viel, erzählte von den Tieren und Pflanzen im Wald, die er beobachtete und machte sich über seine Einsamkeit in der Natur lustig, die jedoch mit der Einsamkeit, die einen in einer Stadt befallen konnte, nicht zu vergleichen war.
Ich fühlte mich wie in einem Paralleluniversum, in dem es eine glückliche Version meines Vaters gab, unberührt von einem Leben, das in einem anderen Universum stattgefunden hatte.
Unauffällig betrachtete ich die Fotos, die auf einer Anrichte standen. Sie zeigten ihn und Finn bei Wanderungen durch den Wald. Finn verbrachte offenbar viel Zeit mit meinem Vater, und ich fragte mich, was wohl seine Geschichte war. Wahrscheinlich hatte er keinen eigenen Vater mehr.
Zum Abschied schenkte mein Vater uns selbstgemachten Honig und Marmelade aus Blaubeeren.
„Die Blaubeeren in diesem Wald müsstet ihr sehen. So groß wie ein Daumen.“
Als er das sagte, wurde ich ein bisschen wehmütig, weil ich an die apfelgroßen Blaubeeren im magischen Wald dachte, eine Welt, die er für immer vergessen hatte.
Er klopfte Janus auf die Schulter. Mir wollte er die Hand geben, aber ohne Nachzudenken umarmte ich ihn einfach.
Für einen Moment war er verblüfft, aber dann lachte er. „Meine Güte. Das hat mich jetzt aber aus dem Konzept gebracht. Wie lange ist es wohl her, dass mich eine junge Maid in den Arm genommen hat?! Du musst gut achtgeben auf sie, Janus.“
Janus lächelte.
Wir liefen über die Lichtung zurück in den Wald. Ich drehte mich noch einmal um, doch mein Vater konzentrierte sich wieder ganz auf das Holzhacken.
Kapitel 46
Janus’ ehemaliges Zimmer unter dem Dach war klein, aber sehr gemütlich. Es war ganz mit Holz getäfelt, besaß in die Wände eingebaute Schränke und eine große Matratze unter den niedrigen Fensterchen.
Hier lag ich nun seit einer Weile mit dem Brief in der Hand und sah auf das Meer. Janus hatte mich allein gelassen.
„Ich bin unten im Café. Ich habe einen ziemlichen Hunger“, hatte er gesagt und dann war er gegangen.
Eigentlich hätte ich auch längst Hunger haben müssen, aber mein Magen meldete sich nicht.
Ich setzte mich auf, öffnete den Briefumschlag vorsichtig und zog einen zweimal gefalteten Briefbogen hervor.
Neve, meine liebe Tochter,
wenn du diesen Brief liest, werde ich schon viele Jahre nicht mehr Teil deines Lebens sein. Ich werde keine verstorbene Frau mehr haben, die ich geliebt habe und deren Tod in meiner Verantwortung liegt. Ich werde alle schönen Dinge vergessen haben, aber auch die unerträglichen. So unerträglich, dass ich nicht mit ihnen weiterleben kann. Ist so etwas zu verstehen? Ist es zu verzeihen? Ich hoffe es sehr.
Ich kann nicht einschätzen, wie groß der Schmerz für dich sein wird, wenn ich verschwunden bin. Wir hatten ja kaum etwas miteinander zu tun. Das einzige, was ich getan habe, ist, dir aus dem Weg zu gehen und dich anzuschweigen. Das Schlimmste, was man seinem Kind antun kann, oder?
Ich hoffe, Großmutter hat diese Wunde, die ich dir in die Seele gerissen habe, versorgen können. Es
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