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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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gefällt es dir hier? Kannst du dich an irgendwas erinnern?“, fragte er mich.
    „Erinnern? Das letzte Mal, als ich hier war, war ich ein Jahr alt.“ Ich lächelte. „Aber, es ist eine wunderschöne Stadt.“
    „Sie war nach dem Krieg zu neunzig Prozent zerstört. Sie wurde originalgetreu wieder aufgebaut.“
    „Kaum vorzustellen, dass das alles mal kaputt war.“
    „Komm, lass uns ein bisschen spazieren gehen. Ich zeige dir alles. Du musst das bis in den Himmel aufgetürmte Softeis probieren. Und den Räucherkäse mit Preiselbeeren, den es an jeder Ecke gibt.“
     
    Einige Stunden später erreichten wir mit Finns Auto die polnischen Masuren. Erst hatten wir die quirlige, aber dennoch gemütliche Stadt hinter uns gelassen, dann die Autobahn, dann die Landstraße, und nun fuhren wir auf einem unebenen Forstweg durch den Wald.
    Kurze Zeit später mündete er in einen schmalen Waldweg. Finn hielt an, schaltete den Motor ab und wir stiegen aus. Die kalte Wintersonne blinzelte durch die kahlen Bäume. Finn ging den überwachsenen Weg voran, ich und Janus folgten ihm. Was erwartete mich? Ich spürte, wie leise Angst in mir aufstieg, und stolperte über eine Wurzel. Janus hielt mich am Ellenbogen fest und verhinderte, dass ich hinfiel.
    „In zehn Minuten sind wir da“, erklärte Finn und knickte ein paar kahle Äste ab, die uns den Weg versperrten. Ich zog meine Weste enger um mich, vergrub meine kalten Hände tief in den Taschen und beobachtete, wie mein Atem in der Luft kondensierte.
    Warum hat mein Vater sich in eine derart einsame Wildnis zurückgezogen? Warum hat er das alles nur getan? Ich befühlte den Brief in der Innentasche meiner Weste. Alles, was gerade passierte, hatte ich Janus zu verdanken. Für einen Moment wünschte ich mir, wir wären uns nie … Nein, das wünschte ich mir nicht. Ich war jetzt hier und ich würde es durchstehen.
    Erst schien das Dickicht um uns immer dichter zu werden. Wir liefen durch eine Schonung, die Stille wurde hin und wieder durch den Schrei eines Tieres zerrissen. Dann kamen wir plötzlich auf eine Lichtung. An ihrem Ende befand sich ein kleines Haus aus groben Blockbohlen, dunkel mit Wetterschutzfarbe gestrichen. Aus dem Schornstein stieg dicker Rauch in den Himmel. Ein Mann stand einige Meter daneben und hackte Holz.
    Mein Vater. Das war er. Ich erkannte ihn von Weitem an seinen Bewegungen. Die Holzscheite, die er bereits neben sich aufgestapelt hatte, würden für die nächsten dreißig Jahre reichen.
    Jetzt trennten uns nur noch ein paar Meter. Unwillkürlich verlangsamten sich meine Schritte.
    Er sah auf, blickte zuerst Finn an, der ihn bereits erreicht hatte, und dann mich und Janus.
    „Jerzy, Dzie ń dobry“, begrüßte Finn ihn auf Polnisch. „Das sind Freunde von mir, aus Deutschland. Ich zeige ihnen ein bisschen die Gegend“, fuhr er auf Deutsch fort.
    Mein Vater musterte uns. Sein vom Wetter zerfurchtes Gesicht wirkte offen und freundlich. Ich begegnete seinen Augen, und sofort erkannte ich darin unser ganzes früheres Leben, unseren Wald, unser Forsthaus, die langen Abende am Kamin, an denen meine Oma strickte, ich ein Buch las und mein Vater einfach nur schwieg und in die Flammen starrte. Ich glaubte, den Geruch von Apfelmost in der Nase zu haben und spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief.
    „Oh ja, in den Masuren kann es eisig werden im Winter. Bis einem die Augen tränen.“ Mein Vater lachte.
    Hastig wischte ich die Träne fort.
    Er streckte mir die Hand entgegen. „Hallo. Sag einfach Jerzy zu mir.“
    „Hallo. Neve“, flüsterte ich und senkte meinen Blick.
    „Wie?“
    „Neve“, wiederholte ich lauter.
    „Neve …“ Er machte eine kleine Pause und ich spürte, wie ich vor Aufregung zu zittern begann. Das war ein sehr seltener Spitzname.
    Doch dann sagte er: „Neve … Das klingt fast wie Niebo. Sprichst du Polnisch?“
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Niebo heißt Himmel.“
    „Eigentlich heiße ich Nadja“, fügte ich hinzu.
    „Nadja … schöner Name. Kannst du Holz hacken, Nadja? Dann bist du bei mir richtig.“ Er lachte breit und ich musste weitere Tränen zurückhalten. Vor mir stand mein Vater und ich sah ihn zum ersten Mal in meinem Leben lachen.
    Jetzt wandte er sich an Janus. Er stellte sich ebenfalls vor und sie gaben sich die Hände.
    Mein Vater drehte sich wieder zu Finn. „Und? Was hast du mir Feines mitgebracht?“
    „Piroggen natürlich und Bortschsuppe, so wie du es dir gewünscht hast.“
    „Mein Sohn ist

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