Schattenmelodie
wir nicht nur Freunde waren. Sobald sich eine gute Gelegenheit dazu ergab. Ja, das würde ich tun, tröstete ich mich.
Finn kam mit einem Krug Wasser, in dem so eine Art grüne Algen schwammen, an unseren Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er war ein mittelgroßer, drahtiger Typ mit hellgrünen Augen. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Seine weißblonden Haare bildeten einen schönen Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut. Wahrscheinlich bekamen hier am Meer alle diese vorteilhafte Farbe.
„Möchtet ihr einen Schluck Meerwasser?“, fragte er und Janus hielt sofort sein Glas hin.
„Meerwasser?“, wunderte ich mich.
„Keine Sorge, das magische Meer ist nicht salzig, sondern süß. Und die Algen kannst du mittrinken. Sie sind vergleichbar mit dem Fruchtfleisch von Apfelsinen.“
Ich hielt ihm auch mein Glas hin und Finn schenkte uns ein.
„Apfelsinenfruchtfleisch, das nach Meeresfrüchten schmeckt?“
Finn lachte. „Nein, es schmeckt nicht nach Meeresfrüchten. Schon deshalb, weil das Wasser nicht salzig ist, sondern recht süß. Wir gewinnen sogar unseren Zucker daraus, hinten bei den Zuckerfeldern am Leuchtturm. Probier es einfach mal.“
Ich trank einen Schluck und drehte mich unwillkürlich nach dem Studenten um, der seinen riesigen Fisch verschlang. Finn schien meinen Gedankengängen zu folgen.
„Der Fisch aus dem Meer schmeckt wie gebackener Fisch beim Chinesen. So einfach ist das. Ich sag dir, mit diesem Wasser kann man köstlich kochen wie sonst nirgends auf der Welt.“
Finn hatte recht. Das Wasser schmeckte frisch und süßlich, ein wenig nach Honigmelone, fand ich, und die Algen quietschten beim Kauen wie Halloumi-Käse. Sie besaßen einen süßsauren Geschmack wie gezuckerte Zitrone.
„Okay, ich habe alles für die große Mittagspause vorbereitet und jetzt ein bisschen Zeit für euch. Schießt los, was führt euch zu mir?“
Janus erinnerte Finn an die Geschichte von dem gelöschten Mann, der allein in einer Holzhütte in den Masuren lebte.
„Besuchst du ihn noch?“
„Oh ja, ich unternehme regelmäßig am Wochenende eine Wanderung zu ihm und bringe ihm gekochtes Essen in Frischhaltedosen für die folgende Woche.“
„Wie heißt dieser Mann?“
„Jerzy“, antwortete Finn.
Jerzy. Er hieß also Jerzy. Ich wusste nicht, was ich zuerst empfand: Erleichterung oder Enttäuschung?
„Jerzy?“, fragte Janus ungläubig nach.
„Jerzy, ja. Was ist mit ihm?“
„Hieß er schon immer Jerzy?“
„Wie, ach so, nein. Du meinst … Also, vor der Löschung hatte er einen anderen Vornamen, aber es war sein Wunsch, dass er geändert wurde.“
„Wie hieß er vor der Löschung?“, hakte Janus nach.
Ich sah Finn an, dass er nicht verstand, worauf Janus hinauswollte.
Aber dann sagte er uns seinen echten Namen: „Ferdynant. Vor der Löschung hieß er Ferdynant.“
„Ferdynant Mazur“, flüsterte ich und bekam sofort eine Gänsehaut am ganzen Körper.
„Ja.“ Finn sah mich irritiert an.
„Dann ist er … mein Vater.“
Ein schwammiges Gefühl breitete sich in mir aus, als ich das aussprach. Ich hielt mich an der Tischkante fest. Janus legte sofort eine Hand auf meine und seine andere Hand auf meine Schulter.
„Alles in Ordnung?“
„Es geht schon.“ Ich fixierte ein verbliebenes Algenblatt in meinem leeren Glas und versuchte mich zu beruhigen. Mein Vater lebte. All die Jahre hatte er gelebt! Er war magisch begabt. Er war ein Gelöschter. Er … warum hatte ich so etwas nicht auch nur ein winziges bisschen geahnt?
„Dein Vater?“, fragte Finn ungläubig nach und musterte mich.
„Dann bist du … aber seine Tochter hieß Nadja …“ Jetzt schüttelte er langsam den Kopf, als würde ich mir irgendetwas einbilden.
„Nadja, ja … Irgendwann ist Neve draus geworden. Es ist nur ein Spitzname“, sagte ich tonlos. Ich blieb dabei, auf die Alge im Glas zu starren. Ich hatte das Gefühl, würde ich den Blick von ihr lösen, würde alles um mich herum in sich zusammenfallen.
Sekunden später blickte ich dennoch auf, und nichts fiel in sich zusammen. Der Raum um mich blieb, wie er war. Nur die beiden Studenten waren gegangen. Janus und Finn wechselten ein paar ernste Blicke.
„Wo gibt es hier eine Toilette“, fragte ich und erhob mich.
„Eine Treppe tiefer, gleich links.“
„Danke.“
„Soll ich dich begleiten?“, fragte Janus besorgt.
„Nein, schon gut. Ich muss nur …“
Kurz mal allein sein, wollte ich hinzufügen, aber ich sah Janus an,
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