Schattenmenagerie
Leine gebunden,
dass er die Broschüre gefahrlos ergreifen konnte. Auf der Vorderseite stand in blutroter
Tinte ›C. K.‹.
Der Junge hielt
seine Lektüre ins Licht der jungen Kerze. Eine saubere Handschrift, so fand er.
Alles penibel und schwungvoll ausgemalt. Gerade, entschlossene Federführung. Kein
Wort durchgestrichen oder nachträglich zwischen die Zeilen gequetscht. Keine Fettflecken,
Tintenkleckse oder Eselsohren.
Er warf einen
Blick auf die letzte Seite. Die Tinte schien frisch noch. Was er dort las, zog ihn
sofort in den Bann.
#
Du, die du Frucht zweier
Welten bist, wurdest einzig erschaffen, um mir zu dienen. Du wirst meine Seelenmenagerie
um eine weitere Farbe bereichern. Du wirst mich verehren, weil du durch mich du
selber werden wirst. Du wirst deine Welt und ihre Lebewesen verändern. Du wirst
die gerechte Hölle über sie stürzen. Du wirst mein Racheengel. Der glänzende Beweis,
dass Gott tot ist.
Deine Seele kenne ich
seit deiner Geburt. Ich habe sie schon immer auf meiner Liste. Sie wird mir gehören,
bis in alle Ewigkeit. Der Handel ist beschlossen. Tu den letzten Schritt!
#
Die von ihren Weisheiten
besudelten Götter haben ihre Zeit gehabt und ihr Jahrtausend ist vorbei.
TUNRIDA
#
Unterschrieben waren die Zeilen mit ›Der Herr der
Seelen‹. Ein Doppelkreuz – dem musikalischen Vorzeichen ähnlich, nur stark verzerrt
– beschloss den Text. Wie eine Wunde war es mit Hilfe eines Brandeisens, das an
der Wand über dem Altar hing, tief in das weiche Papier eingraviert und mit blutiger
Tinte ausgefüllt. Als hätte ein Besessener seine dämonische Wolllust an dem Stoff
ausgetobt. Purpurne Tintenspritzer bedeckten den Rest der nur zu einem Viertel beschriebenen
Seite.
Noël blätterte
vor zur ersten Seite und erstarrte. Er erkannte sofort, wessen Seele in diesem Buch
festgeschrieben war. Er konnte kaum fassen, was er las. Die Kindheit, die Katastrophe,
die zerrissene Jugend, die enttäuschte Liebe.
Er schämte sich,
so unbeabsichtigt in die Intimsphäre einer fremden Person eingedrungen zu sein.
Mit einem kurzen Stoßgebet legte er das Heft zurück und verharrte lange andächtig
vor dem Altar.
Viviana steuerte
währenddessen auf eine Tonne zu, die verloren in einer Ecke stand. Deren Kerze war
längst erloschen. Die Schlange zeigte kein Anzeichen von Leben. Entweder war sie
tot, oder aber ihr war die Person, die sich zaghaft näherte, vertraut. Die junge
Frau hob einen Kerzenstummel auf, der auf dem Boden lag und entzündete ihn an einer
kaum noch flackernden Kerze. Sie hielt sie so, dass sie in dem aufgeschlagenen Buch,
das in einen dunkelblauen Einband gefasst war, einige Worte entziffern konnte.
Plötzlich erschrak
sie so sehr, dass ihr fast die Kerze aus der Hand fiel. Sie verbrannte sich schmerzhaft
den Daumen.
›Viviana‹ stand
da, deutlich lesbar, in schwungvoll vollendeter Schrift.
Sie hielt den
Atem an. Kraftlos sank sie zusammen, die Lektüre mit sich reißend. Dabei fiel die
erloschene Kerze, die über Jahrzehnte Wache gehalten hatte, um. Die Schlange rührte
sich nach wie vor nicht.
Die junge Frau
rutschte auf dem Boden an eine Stelle, an der sich das Licht zweier anderer Kerzen
traf. Das genügte, um die Buchstaben zu entziffern.
Es war die gleiche
Schrift wie in dem Buch, das Noël in der Hand hielt. Viviana wusste das aber nicht.
Fassungslos begann sie, Seite für Seite zu studieren. Sie las von ihrer glücklichen
Kindheit, von der Entdeckung ihres musikalischen Talents, von ihren ersten Erfolgen.
– Es war, als würde sie an ihrem Leben ein zweites Mal teilhaben.
Dann der Einschnitt.
Ihr Vater starb. Der Lebensunterhalt konnte nur noch mühsam bestritten werden. Die
Mutter verkaufte voller Verzweiflung ihre Seele an einen Scharlatan.
»Mach, dass meine
Tochter eine berühmte Pianistin wird. Damit unser zukünftiges Dasein gesichert ist.
Als Gegenleistung verspreche ich, dir meine Seele zu weihen. Mehr habe ich nicht.«
Der Scharlatan
willigte ein, aber nur unter einer Bedingung: »Nur, wenn du versprichst, dass sie
mit ihrer Musik niemals ein Lobeslied auf Gott singen wird.«
Die Mutter versprach
es. Und die Tochter durfte ungeahnte Erfolge genießen. Doch eines Tages schloss
sie sich einer Gruppe von jungen Musikern an, die in der Eutiner Hauptkirche das
Experiment wagten, Pendereckis Lukaspassion aufzuführen. Viviana spielte Orgel und
sang die Sopranstimme inbrünstig mit.
Am nächsten Tag
erlitt ihre Mutter einen Schlaganfall. Viviana betete
Weitere Kostenlose Bücher