Schattenmenagerie
jeden Tag für sie und half
als Kirchenorganistin aus, um sich ein paar Groschen für die Arztrechnungen zusammenzusparen.
Nach einer Woche
verstarb die Mutter. Die Beerdigung fand in aller Stille und ohne öffentliche Anteilnahme
statt. Lediglich ein hochaufgeschossener Herr, vornehm gekleidet und mit einem Strauß
Narzissen in der Hand, zeigte näheres Interesse an dem jungen Mädchen, das seine
Tränen nicht zurückhalten konnte.
»Trauer nicht,
mein Kind. Der Körper des Menschen wächst und verfällt. Aber seine Seele ist unsterblich.
Die deiner Mutter wird für alle Zeiten weiterleben. An einem ihr würdigen Ort. Dessen
sei versichert.« Er zog ein duftendes Leinentuch aus seiner Tasche und trocknete
damit zärtlich Vivianas Augen. Wenige Tage später versagte dem Mädchen das Augenlicht.
Die Ärzte prophezeiten ihm lebenslange Blindheit.
Viviana hielt
in ihrer Lektüre inne und weinte tränenlos und leise vor sich hin. Die Schlussbemerkung
nahm sie gar nicht mehr wahr:
#
Diese Seele ist durch
Verrat an mich gefallen. Ein nutzloser Erfolg. Verdammt sei die eitle Selbstsucht
gottesfürchtiger Wesen.
Es ist der falsche Weg.
Gott ist tot!
Es lebe der Herr der
Seelen.
#
Die Raben der Nacht
sind davongeflogen, um Loki anzurufen, der die Walhalla in Flammen aufgehen hat
lassen mit dem brennenden Dreizack des Infernos. Die Dämmerung ist vorbei. Ein Glanz
neuen Lichtes wurde aus der Nacht geboren und Luzifer ist auferstanden, um erneut
zu verkünden: Dies ist das Zeitalter Satans! Satan regiert die Welt!
PROSERPINE
#
Antonio war vor einer Tonne stehen geblieben, auf
der eine riesige gelbgrüne Schlange neben einem dicken Buch mit einem braunen Leinenumschlag
döste. Vorsichtig wagte er sich näher und testete mit seiner Taschenlampe, ob das
Tier wach war. Er nahm all seinen Mut zusammen und zog den Foliant unter ihrem Körper
hervor. Die Schlange legte müde ihren Kopf von der einen Seite zur anderen, als
hätte sie es längst erwartet, dass sich jemand des Wälzers annehmen würde.
Der Junge lüftete
das Buch vorsichtig und schaute auf den Buchdeckel. Die Initialen ›N. R.‹ prangten
dort in breiten goldenen Lettern auf schwarzem Untergrund. Antonio überflog die
ersten Seiten, dann stolperte sein Blick über eine Passage, die ihm merkwürdig vertraut
vorkam. »Wo habe ich so was bloß schon mal gelesen?«, sinnierte er.
Es fiel ihm nicht
ein.
Resigniert legte
er das Buch genauso wieder hin, wie er es vorgefunden hatte. Er war von den dreien
der Einzige, dem bewusst war, dass sie hier keine Spuren hinterlassen durften. Ansonsten
wäre der unbekannte Hüter dieser geheimnisvollen Bücherei gewarnt. Der selbsternannte
Meisterdetektiv der Gruppe holte eine Lupe hervor und examinierte die letzten Zeilen:
#
Deine Frist läuft morgen
ab. Du weißt, dass das Wort Gnade nicht in mein Reich gehört. Du kennst meine Gesetze,
und dir sollte klar sein, dass sie ehern sind. Dafür bist du schon zu lange mein
Diener. Unser Handel will es so. Jetzt hast du genug von meinen Künsten profitiert.
Entweder du oder sie!
Entweder du erlöst deine
kärgliche Seele, indem du mir eine frische zuführst, oder aber sie wird für alle
Ewigkeiten in dem tiefsten Loch meiner fürchterlichsten Hölle schmoren.
Denn ich bin allmächtig.
Ich – der Herr der Seelen.
#
Die Götter der Ungerechten sind tot. Dies ist der
Morgen der magischen, unverfälschten Weisheit. Das Fleisch
herrscht, und eine großartige
Kirche soll errichtet und in seinem Namen geweiht werden.
HABORYM
#
Antonio verstand von dem Sinn der Worte so gut
wie nichts. Nur ein beklemmendes Angstgefühl ergriff ihn. Zur Ablenkung versuchte
er, sich in kriminalistische Analysen zu vertiefen. Das Vergrößerungsglas deckte
die Feinheiten der Inschrift auf. Der Schreiber hatte sicherlich keine zitternde
Hand, benutzte nur die äußere, feine Spitze einer Kielfeder und verwendete eine
blutähnliche Tinte. Die sorgsam ausgeführte, waagerechte Schreibrichtung und das
Fehlen von jeglichen Retuschierungen, Unterbrechungen und unnötigen Schnörkeln wies
auf einen kultivierten und selbstsicheren Charakter hin. Intelligent und gleichzeitig
herrschsüchtig, unbarmherzig, ehrgeizig und gnadenlos.
Der Junge hatte
so etwas noch nie erlebt. Der mystisch beleuchtete Raum, der betörende Geruch von
Weihrauch, die absonderlichen Schlangen und die magischen Bücher mit ihrer rätselhaften
Sprache.
»Wo sind wir
hier, was zum Teufel hat das alles zu
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