Schattenmenagerie
bedeuten?«, rief er erregt aus. Dadurch wachten
auch die anderen beiden Eindringlinge aus ihrem Grübeln auf. Sie eilten zu Antonio.
Viviana war noch zu schockiert, als dass sie einen Ton herausbringen konnte.
»Ja, was für
ein Teufelszeug!«, stieß Noël hervor. »Das ist ja eine wahre Hexenküche! Jetzt fehlt
nur noch, dass wir Gespenster sehen.« Er wischte sich Angstschweiß von der Stirn.
Dann nahm er Viviana in den Arm. Er ahnte, dass sie gerade den schwersten Augenblick
ihres Leben hinter sich gebracht hatte. Er strich ihr tröstend übers Haar.
Um sie abzulenken,
fragte er: »Sagt mal, weiß einer, was eine Seelenmenagerie ist? Das Wort habe ich
in dem Buch dahinten gelesen.«
»Bestimmt ein
Zirkus für die Seele«, meinte Antonio.
Viviana hatte
sich etwas gefangen und korrigierte ihn: »Nein. Eine Menagerie ist eine zoologische
Ausstellung von Tieren. – Aber eine Seelenmenagerie … Das ist merkwürdig. Nur Menschen
haben eine Seele, finde ich. Und was in diesen Büchern steht, handelt ja wohl offenbar
von Menschen, nicht von Tieren. – Soll das bedeuten, dass sich hier jemand als Dompteur
der menschlichen Seele aufspielt?«
Sie legte eine
kleine Pause ein. Dann fuhr sie fort: »Das ist es. – Die Seele des Menschen ist
ein Buch. Jeder Mensch hat so ein Buch. Nur ein einziges, aber es ist sein wichtigstes.
– Und Gott schreibt ihm seinen Lebensweg hinein. Seine Identität. – Wenn man sich
aber selbst betrügt, sich von sich selbst entfremdet, dann ist das so, als gäbe
man sein Buch aus der Hand. Dann hat man seine Seele verkauft, dann legen sich Schatten
auf seine Seele. Dann lebt man im Schatten seiner Seele. – Dann schreibt jemand
anderes weiter …«
Plötzlich vernahmen
sie von draußen Geräusche von Schritten und hohles Schlüsselklappern.
»Verdammt, das
fehlt uns jetzt noch!«, flüsterte Antonio. »Schnell hinter die Fässer dort in der
Ecke. Da ist es dunkel genug, um sich zu verstecken.«
Kaum waren die
drei hinter ihrer Deckung abgetaucht, öffnete sich die Tür. Ein Mann, bekleidet
mit einer Kukulle, betrat die Katakombe. Die Spitzmütze beschattete sein Gesicht.
Nur die Augen schienen wie aus einer Höhle hervorzuglimmen.
Der Mann trug
einen dreiarmigen Kerzenleuchter, der nur ein spärliches Licht warf. Offenbar kannte
er sich hier aber gut aus, denn er fand sicher seinen Weg, ohne an eine der Tonnen
zu stoßen. Am Altar blieb er stehen. Er murmelte etwas in einer fremden Sprache,
was die drei nicht verstanden. Wahrscheinlich Latein. Dann kramte er aus seinen
unergründlichen Manteltaschen ein Tintengefäß und eine Kielfeder hervor.
Bedächtig schrieb
er ein paar Sätze, schlug mit beiden Händen ein angedeutetes Doppelkreuz und verschwand
so rasch, wie er gekommen war. Nach nur drei Minuten war der ganze Spuk zu Ende.
Die Schritte entfernten sich, man hörte, wie oben eine Tür schwer ins Schloss fiel.
Die Eindringlinge
hockten noch eine Weile still hinter ihren Tonnen, völlig verschüchtert. Dann ergriff
Antonio die Initiative. Leise flüsterte er: »Es hilft nichts, wir müssen jetzt hier
raus. – Ich denke, es wird am besten sein, wir nehmen den gleichen Weg wieder zurück.
Den kennen wir wenigstens.«
»Gut«, pflichtete
Viviana ihm bei. »Aber vorher möchte ich wissen, was er dort in das Buch eingetragen
hat.«
Sie huschten
zum Altar. Die Tinte war noch feucht, das sah Antonio mit Kennerblick.
Jetzt gibt es kein Zurück
mehr. – Tu es! – Tu es noch morgen, – bevor die Sonne untergeht!
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BEHERIT
Kapitel 22:
6. Satz: Das Tor zum Paradies
Viviana brach den fünften Satz mit einem düsteren, kardinalroten Es-Moll-Akkord
abrupt ab. Sie gönnte sich und den Zuschauern keine Pause. Sofort setzte sie zur
Eröffnung des Schlusssatzes der ›Wolfsschlucht-Suite‹ mit hellgrünen E-Dur-Arpeggien
nach. Der Kontrast hätte nicht schärfer sein können. Eine pastorale Melodie baute
sich darauf auf und formte eine herrliche Landschaft.
Am azurblauen Himmel hatten sich ein paar dünne
und hohe, hakenförmige Eiswolken gebildet. Sie sahen aus wie verwischte, feine,
weiße Pinselstriche. Eine starke vertikale Windströmung trieb sie rasch ostwärts.
Der fruchtbare
Kessel, den das Ukleital bildete, zeigte sich heute von seiner freundlichsten Seite.
Die lichten Buchen, die sich an den Bergrücken hoch bis zum Kamm lehnten, wiegten
sich sanft im frischen Sommerwind. Die Talsohle bestand aus einer grüngelben Wiese,
in der Löwenzahn und Dotterblume
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