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Schattennacht

Schattennacht

Titel: Schattennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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nur ein Zwischenspiel, das vom ersten zum zweiten Akt überleitet.«
    Vielleicht vertraute Jacob darauf, dass ein höheres Wesen seine Hand führte und ihm das Boot und den Ort auf dem Meer zeigte, wo die Glocke läutete, damit er am Ende wusste, wann für ihn die Zeit gekommen war, davonzutreiben.
    »Die Asche meiner Freundin hat man nicht ins Meer gestreut. Man hat sie mir in einer Urne überlassen. Ein Freund in meiner Heimatstadt bewahrt sie für mich auf.«
    Während der Bleistift flüsterte, murmelte Jacob: »Sie konnte singen.«
    »Wenn ihre Stimme so war wie ihr Gesicht, dann muss das wirklich schön geklungen haben. Was hat sie denn gesungen?«
    »Wunderschön. Nur für mich. Wenn das Dunkle kam.«
    »Sie hat dich in den Schlaf gesungen.«
    »Wenn ich aufgewacht bin und das Dunkle noch nicht fort war, wenn es mir so arg groß vorkam, dann hat sie leise gesungen und das Dunkle wieder klein gemacht.«
    Das ist das Beste, was wir füreinander tun können: die Dunkelheit klein zu machen.
    »Jacob, vorher hast du mir von jemandem erzählt, den du den Nimmerwar genannt hast.«
    »Er ist der Nimmerwar, und es ist uns egal.«
    »Du hast gesagt, er wäre zu dir gekommen, als du voll vom Schwarzen warst.«

    »Jacob war voll vom Schwarzen, und der Nimmerwar hat gesagt: Lasst ihn sterben .«
    »Also bedeutet voll vom Schwarzen , dass du krank warst. Sehr krank. War der Mann, der sagte, man soll dich sterben lassen … war der ein Doktor?«
    »Er war der Nimmerwar. Sonst gar nichts. Und es ist uns egal.«
    Ich beobachtete, wie der in den kurzen, dicken Fingern der breiten Hand liegende Bleistift elegante, fließende Linien zog.
    »Jacob, erinnerst du dich an das Gesicht von diesem Nimmerwar? «
    »Schon lange her.« Er schüttelte den Kopf. »Schon lange her.«
    Das Schneetreiben draußen ließ aus dem Fenster ein blindes Auge werden.
    Nach wie vor auf der Schwelle stehend, tippte Romanovich mit dem Zeigfinger auf seine Armbanduhr und hob die Augenbrauen.
    Womöglich blieb uns nur herzlich wenig Zeit, doch um sie zu verbringen, konnte ich mir keinen besseren Ort vorstellen als hier, wohin ich durch das Medium der einst toten Justine geschickt worden war.
    Intuitiv kam mir eine Frage in den Sinn, die mir sofort wichtig erschien.
    »Jacob, du kennst doch meinen Namen, meinen vollen Namen.«
    »Der Odd Thomas.«
    »Ja. Odd ist mein Vorname und Thomas mein Nachname. Kennst du deinen Nachnamen?«
    »Ihr Name.«
    »Genau. Er müsste auch der Nachname deiner Mutter sein.«
    »Jennifer.«
    »Das ist ein Vorname wie Jacob.«

    Der Bleistift hielt inne. Vielleicht lebte die Erinnerung an seine Mutter so stark in Jacob auf, dass kein Teil seines Verstands oder seines Herzens frei blieb, um weiterzuzeichnen.
    »Jenny«, sagte er. »Jenny Calvino.«
    »Also bist du Jacob Calvino.«
    »Jacob Calvino«, bestätigte er.
    Ich hatte gedacht, der Name würde mir etwas verraten, konnte aber überhaupt nichts damit anfangen.
    Der Bleistift setzte sich wieder in Bewegung, und das Boot, aus dem die Asche von Jenny Calvino ins Meer gestreut worden war, nahm weiter Form an.
    Wie bei meinem ersten Besuch, so lag auch jetzt ein zweiter großer Zeichenblock zugeklappt auf dem Tisch. Je länger ich vergeblich versuchte, mir Fragen auszudenken, mit denen ich Jacob entscheidende Informationen entlocken konnte, desto mehr wurde meine Aufmerksamkeit von diesem Gegenstand angezogen.
    Wenn ich den Block ohne Erlaubnis inspizierte, betrachtete Jacob meine Neugier womöglich als Verletzung seiner Privatsphäre. War er dann gekränkt, so zog er sich wahrscheinlich wieder in sich zurück, ohne auch nur ein einziges weiteres Wort mit mir zu sprechen.
    Fragte ich ihn hingegen, ob ich den Block anschauen könne, so verweigerte er mir vielleicht die Erlaubnis, und darüber konnte ich mich erst recht nicht hinwegsetzen.
    Jacobs Nachname hatte mich nicht weitergebracht, obwohl ich das schon vermutet hatte. In diesem Falle jedoch glaubte ich nicht, dass meine Intuition mich in die Irre führte. Der Zeichenblock sah fast so aus, als würde er leuchtend ein Stück weit über der Tischplatte schweben. Von allen Dingen im Raum strahlte er die meiste Kraft aus.
    Ich zog den Block zu mir heran. Jacob bemerkte das entweder nicht, oder es war ihm egal.

    Als ich das Deckblatt zurückschlug, sah ich eine Zeichnung, die das einzige Fenster von Jacobs Zimmer wiedergab. An die Scheibe drückte sich ein Kaleidoskop aus Knochen, das Jacob detailgetreu wiedergegeben

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