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Schattennacht

Schattennacht

Titel: Schattennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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hat, lange her?«
    »Kann nicht«, sagte er.
    »Ich bin ziemlich sicher, dass du ein fotografisches Gedächtnis hast. Das heißt, du kannst dich wahrscheinlich ganz genau an alles erinnern, was du siehst, selbst wenn es lange vor dem Meer und der Glocke und dem Wegtreiben war.« Ich blickte auf die Wand mit den vielen Porträts. »Zum Beispiel an das Gesicht deiner Mutter. Stimmt das, Jacob? Erinnerst du dich an alles, was lange her ist, als ob du es erst vor einer Stunde gesehen hättest?«
    »Es tut weh«, sagte er.
    »Was tut weh, Jacob?«
    »Alles. Es ist so deutlich.«
    »Das kann ich gut verstehen. Meine Freundin ist nun schon sechzehn Monate lang tot, und ich sehe sie mit jedem Tag deutlicher. «
    Er zeichnete, und ich wartete.
    »Weißt du, wie alt du warst, damals im Krankenhaus?«, fragte ich schließlich.
    »Sieben. Ich war sieben.«
    »Zeichnest du mir dann das Gesicht vom Nimmerwar, so wie es damals im Krankenhaus ausgesehen hat, als du sieben warst?«
    »Kann nicht. Meine Augen waren so komisch. Wie ein Fenster im Regen, wo man nicht richtig durchschauen kann.«
    »Du hast damals alles nur verschwommen gesehen?«

    »Verschwommen, ja.«
    »Wegen deiner Krankheit wahrscheinlich.« Meine Hoffnung löste sich in Luft auf. »Das verstehe ich.«
    Auf dem Block mit Gevatter Tod blätterte ich zu der zweiten Seite um, auf der das Knochenkaleidoskop am Fenster dargestellt war.
    »Wie oft hast du dieses Ding gesehen, Jacob?«
    »Mehr als ein Ding. Verschiedene.«
    »Wie oft waren die am Fenster?«
    »Drei Mal.«
    »Nur drei Mal? Wann?«
    »Zwei Mal gestern. Und dann, als ich aufgewacht bin.«
    »Als du heute Morgen aufgewacht bist?«
    »Ja.«
    »Ich hab sie auch gesehen«, sagte ich, »aber ich bekomme einfach nicht heraus, was sie sind. Was meinst du denn, Jacob?«
    »Die Hunde vom Nimmerwar sind das«, sagte er ohne jedes Zögern. »Aber vor denen hab ich keine Angst.«
    »Also, wie Hunde sehen die aber nicht aus.«
    »Keine Hunde, aber so ähnlich«, erklärte er. »Wie echt böse Hunde. Er bringt ihnen bei zu töten, dann schickt er sie aus, und sie tun es.«
    »Kampfhunde«, sagte ich.
    »Ich hab keine Angst, und ich werde auch nie welche haben.«
    »Du bist ein sehr tapferer Kerl, Jacob Calvino.«
    »Sie hat gesagt … sie hat gesagt: Hab keine Angst, wir sind nicht dazu geboren, ständig Angst zu haben, wir wurden glücklich geboren, Babys lachen über alles, wir wurden glücklich geboren, damit wir die Welt besser machen.«
    »Deine Mutter hätte ich unheimlich gern kennengelernt.«
    »Sie hat gesagt, jeder … jeder, egal ob er reich oder arm ist, ob er was Großes ist oder ein Niemand – jeder hat eine Gabe.« Als
er das letzte Wort aussprach, trat Frieden in sein gequältes Gesicht. »Weißt du, was das ist, eine Gabe?«
    »Ja.«
    »Eine Gabe ist was, das man von Gott bekommt. Man benutzt es, um die Welt besser zu machen, oder man benutzt es nicht, das muss man selbst entscheiden.«
    »Wie deine Kunst«, sagte ich. »Wie deine wunderbaren Zeichnungen. «
    »Wie deine Pfannkuchen«, sagte Jacob.
    »Ach, du weißt, dass ich die Pfannkuchen gebacken hab, ja?«
    »Die Pfannkuchen, die sind eine Gabe.«
    »Danke, Jacob, das ist lieb von dir.« Ich klappte den Block zu und erhob mich. »Ich muss jetzt gehen, aber ich würde gern wiederkommen, wenn das in Ordnung ist.«
    »In Ordnung.«
    »Kommst du zurecht?«
    »Ja, ja«, beruhigte er mich.
    Ich trat hinter ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter und betrachtete die Zeichnung aus seinem Blickwinkel.
    Er konnte seine Motive äußerst realistisch wiedergeben, aber das war nicht alles. Dazu kam ein Verständnis für die Eigenschaften des Lichts und dessen Schönheit. Er wusste, dass man es brauchte und dass es selbst im Schatten zu finden war.
    Draußen hinter dem Fenster war die Winterdämmerung noch mehrere Stunden entfernt, doch der Schneesturm hatte das Licht schon fast abgewürgt. Es war düster geworden.
    Vorher hatte Jacob warnend gesagt, mit dem Dunklen werde das Dunkle kommen. Vielleicht konnten wir nicht damit rechnen, dass der Tod wartete, bis es richtig Nacht wurde. Vielleicht waren die Schatten dieser falschen Dämmerung schon dunkel genug.

44
    Nachdem ich Jacob versprochen hatte wiederzukommen, schloss ich hinter mir die Tür. Rodion Romanovich sah mich an. »Mr. Thomas, die Befragung dieses jungen Mannes … die lief nicht so, wie ich sie durchgeführt hätte«, sagte er.
    »Mag sein, Sir, aber die Nonnen haben ein striktes Verbot erlassen,

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